Ich fand gerade einen Artikel sehr interessant, in dem eine Beobachtung einer Grundschullehrerin diskutiert wird. Sie ging mit einer Tüte Gummibärchen durch die dritte Klasse und jedes Kind durfte sich ein Gummibärchen herausnehmen. Allerdings haben sich nur zwei von 25 bedankt. Sie sagte ihnen, dass sie das sehr schade fand und nun traurig sei. Dann folgte der normale Unterricht. Am Ende verteilte sie erneut eine Runde Gummibärchen. Sie erwartete, dass sich nun alle Kinder bedanken würden, doch es waren nur fünf!
Die Diskussion dazu fand ich recht schwach. Gummibärchen seien heute eben nichts Besonderes mehr für die Kinder. Und man müsse sie ja auch nicht gerade dressieren. Ähm?? Mich hat man noch dazu dressiert, sogar dann Freude zu zeigen, wenn mir ein Geschenk gar nicht gefällt. Oder immer Sekt mitzutrinken, obwohl ich ihn gar nicht mag. Wenn ich ihn ablehnte, dachte der Feiernde nämlich, ich freue mich nicht mit ihm und nahm das persönlich. Zum Glück gibt es heutzutage bei den meisten solcher Anlässe auch Orangensaft zum Anstoßen, so dass ich nicht ohne Glas dastehen muss. Problem gelöst. :-)
Grundsätzlich sollte man sich aber durchaus guter Umgangsformen befleißigen. Es kostet nichts, vermeidet aber unnötige Konflikte. Beispielsweise staune ich über Leute, die mir erklären, wer höflich zu chatGPT sei, der sei blöd, weil er chatGPT für einen Menschen hielte. Nein, das ist eine falsche Schlussfolgerung. Für mich sind "bitte" und "danke" Teil meines ganz normalen Kommunikationsstils. Um diese Wörter wegzulassen, müsste ich mich extra konzentrieren und verstellen. Ich müsste absichtlich einen ungewohnt unhöflichen Kommunikationsstil wählen, und das kostet mich zu viel geistige Energie. Naja, jetzt kann ich mir vorstellen, wie viel Energie es Menschen kostet, höflich zu sein, wenn sie das nicht gewohnt sind. Kein Wunder, dass sie das nur dann machen, wenn sie glauben, dass es sich lohne.
Vielleicht ist ein wenig Dressur in der Erziehung gar nicht so falsch. Höflichkeit kann dadurch einfach eine Gewohnheit werden. Aber für viele Menschen ist Höflichkeit etwas, das sie nur aus dem Schrank holen wie das Abendkleid, wenn ein besonderer Anlass vorliegt. Dankbarkeit ist auch aus der Mode, denn jeder kennt seine Rechte. Hin und wieder frage ich mal jemanden "Freust du dich denn nicht?" oder "Bist du denn nicht dankbar?" Und dann fallen Sätze wie "Wieso? Ich habe da doch ein Recht drauf." oder "Wieso? Der Person macht es doch Freude, mir zu helfen, da muss ich mich doch nicht bedanken." oder "Die merkt das gar nicht, dass sie verarscht wurde." Eine Freundin beispielsweise sprang immer an die Decke, wenn ihr jemand etwas in der ihr verhassten Farbe Grün schenkte. OK, ich habe es mir gemerkt und sie bekam nichts Grünes von mir. Viele Menschen haben die Einstellung, dass die anderen ihnen etwas schulden und alles so tun müssen wie sie es sich vorstellen. Mir kommt das so vor als sei so jemand im Alter von vier Jahren stecken geblieben. Natürlich werden sie von den blöden Menschen um sich herum nur ständig enttäuscht, was allein daran liegt, dass sie eben NICHT das Zentrum des Universums sind. Und so sind sie trotz hohem Selbstbewusstsein die ganze Zeit unglücklich.
Zum Erwachsenwerden gehört es doch dazu zu erkennen, dass man nicht das Zentrum des Universums und mitnichten wichtiger ist als die anderen. Das bildet später im Leben auch die Grundlage für gute Teamarbeit.
Um zu den Grundschulkindern zurückzukehren: Ich merke schon, dass viele Menschen wenig Wert darauf legen, bei anderen beliebt zu sein. Das wäre eine Motivation, der Lehrerin freundlich zuzulächeln und "danke zu sagen", während man das Gummibärchen nimmt. Damit sie sich freut. Wichtiger ist es den meisten, selbstbewusst zu sein und sich im Leben durchzusetzen. Man tendiert ja dazu zu glauben, das würde alles viel schlimmer mit jeder Generation und sei damals zu unserer Zeit nicht so gewesen. Dabei hatte man als junger Mensch einfach weniger den Überblick und letztlich vor allem Freunde, die einem ähneln. Erst in Studium und Berufsleben wird man mit Menschen gemischt und in Teams gestopft, die einen komplett anderen kulturellen Hintergrund haben. Beispielsweise aus einer Familie stammen, wo Danke-Sagen oder gute Schulnoten als Unterwerfungsgeste gelten, und es normal ist, die kleineren Geschwister zu verprügeln, damit sie ihre Schokolade rausrücken. Ich bin nicht sicher, ob es immer schlimmer wird. Grundsätzlich möglich, weil ja die Medien (Fernsehen, Influencer) vor schlechten Manieren nur so strotzen. Das geht schon los mit Fernsehshows, die früher von Herren im Anzug freundlich und höflich geleitet wurden, wo ein ebenfalls höflicher, freundlicher Thomas Gottschalk wegen seiner langen Locken als Hippie auffiel. Und dann diese vielen Spielfilme und Krimis, in denen die Helden Kriminelle sind oder unhöfliche Polizisten und Detektive. Klar, die spielen auch in Milieus der schlechten Manieren, aber genau darum sehe ich mir so etwas so ungern an. Wie sollte ich mich identifizieren mit Leuten, die dauernd unnötig ruppig zu anderen sind und Konflikte schüren statt sie zu lösen? Darum ist ja auch Kommissar Kuhn von Jan Weiler mein Lieblingsermittler. Der hat sogar Mitgefühl!
Einerseits denke ich, man muss die Unhöflichkeit der anderen nicht zu ernst nehmen, weil sie eher eine schlechte Angewohnheit ist als persönlich gemeint. Andererseits hat sie durchaus etwas zu bedeuten, besonders wenn wie in dem Fall der Lehrerin sie ja recht klar gesagt hat, dass sie es gerne sähe, wenn man sich bedankt. Aber das war den Kindern dann auch egal. Klar, sie sind noch recht jung und dem einen oder anderen war es hinterher peinlich, dass es das ungewohnte Wort nicht über die Lippen bekam. Aber das weiß man nicht. Vielleicht war es ihnen einfach wurscht, was die Lehrerin über sie denkt. Ein Anrecht auf gerechte Noten haben sie ja sowieso!