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Blog für Herrmann & Ehrlich. In diesem Blog geht es um die Arbeitsprozesse im Software Engineering, insbesondere um Requirements Engineering, Kreativität, Projekt- und Zeitmanagement und diverse weitere relevante Themen. Autorin: Andrea Herrmann

Druck zerstört Ethik

Schon in den 90ern konnte ich am konkreten Beispiel beobachten, wie Druck ethisches Empfinden und gesunden Menschenverstand zerstört. In der Niederlassung einer Firma, in der ich arbeitete, wurden die Ziele für die zielorientierte Bezahlung hochgeschraubt. Unter anderem mussten wir nun zu 100% "produktiv arbeiten", was aber genau genommen bedeutete, dass wir 40 Stunden pro Woche auf Kunden-Projekte buchen mussten. So wurde das nämlich gemessen.

Das führte dann zu zahlreichen Auswirkungen in der Zusammenarbeit:

- Aufgaben, die man nicht auf ein Kunden-Projekt buchen konnte wie z. B. Betreuung von Praktikanten, Einarbeitung neuer Kollegen, Vertriebstätigkeiten und dergleichen wollte dann niemand mehr machen. Ergebnis davon war, dass die Leute mit niedrigem Status diese Aufgaben machten. Diese erreichten darum ihre Ziele dann nicht, obwohl sie auch in der scheinbar unproduktiven Arbeit für die Firma arbeiteten. 

- Zu den Zielen gehörten ebenfalls Aufgaben, die nicht produktiv gebucht werden konnten, beispielsweise Artikel fürs Wissensmanagementsystem zu schreiben oder im Intranet eine neue Seite aufzusetzen und zu pflegen. Man hatte also drei Alternativen: Man macht die Sache, kriegt dann aber Gehalt abgezogen dafür, dass diese Aufgabe nicht produktiv gebucht werden konnte. Man arbeitete zu 100 % produktiv, machte dafür diese Aufgabe nicht und bekam dafür Strafe vom Gehalt abgezogen. Oder man erledigte diese unproduktiven Aufgaben in unbezahlten Überstunden, die ja nun plötzlich gewissermaßen bezahlt waren dadurch, dass die Strafzahlung dann entfiel.

- Zu unseren Pflichtaufgaben gehörten auch Pflichtmeetings, die ebenfalls nicht produktiv gebucht werden konnten. Wegen der Anwesenheitspflicht mussten wir im Prinzip die zweistündige Sitzung dann in Form von unbezahlten Überstunden wieder reinarbeiten. Manche Kollegen nahmen demonstrativ den Laptop mit und arbeiteten während des Meetings. So machte ich es übrigens mit den Reisezeiten auch, denn diese galten als Freizeit. Wenn ich aber im Zug zwei Stunden arbeitete, nahm ich mir das Recht heraus, diese auch als Arbeitszeit aufzuschreiben. 

- Da es letztlich also so gut wie unmöglich war, innerhalb von 40 Arbeitsstunden auch 40 Produktivstunden zusammenzubekommen, ging ein reger Schwarzhandel los. Wenn z.B. eine Projektleiterin dringend einen Entwickler für eine Aufgabe brauchte, hat der Abteilungsleiter beispielsweise ausgehandelt, dass sie nur dann einen Programmierer für 20 Stunden bekommt, wenn er 40 Stunden aufs Projekt buchen darf. Auch innerhalb des Projektteams ging es so los. Wenn ich einer Programmiererin eine Aufgabe zuteilte, fragte sie, wie viele Stunden sie dafür buchen dürfe und dann ging das Gefeilsche los. Produktivstunden waren plötzlich zu einer Art Handelsware geworden. Und da gute Programmierer Mangelware waren, hatten sie eine gute Verhandlungsposition.

Bei dieser ganzen Scheiße gingen dann vollständig jeglicher Teamgeist, Mitgefühl, Fairness und dergleichen leider den Bach runter. Und das wegen 200 Euro pro Monat. So leicht lassen Menschen sich manipulieren. Ob das Endergebnis vorteilhaft für die Firma war, weiß ich nicht. Beispielsweise habe ich als Projektleiterin, weil ich ja fürs Ganze verantwortlich war und mich nicht gerne erpressen lasse, viele der nicht buchbaren Aufgaben selbst erledigen müssen. Trotz zahlreicher Überstunden hatte ich dann zu wenig Produktivstunden und bekam dafür noch Strafe vom Gehalt abgezogen dafür, dass ich mich als einzige im Projekt verantwortlich fühlte und auch als einzige überhaupt Überstunden schob. Das war eine ausgezeichnete Maßnahme, um engagierte Mitarbeiter komplett zu demotivieren und zu verlieren. Unter solchem giftigen Arbeitsklima wollte ich dann auch nicht mehr weiterarbeiten. Ich versuchte noch, bei den Kollegen Aufklärungsarbeit zu leisten und wies sie darauf hin, dass sie für 200 Euro pro Monat ihre Seele verkaufen. Das war ihnen aber egal. Sie fühlten sich für ihr schäbiges unkollegiales Verhalten null verantwortlich, die Verantwortung schoben sie komplett auf die Manager ab, die sich diese unrealistischen Regeln mit der 100 %-Produktivität ausgedacht hatten. Von studierten Leuten hätte ich eigentlich etwas mehr moralische Integrität und Robustheit erwartet. :-(

Seitdem beschäftige ich mich mit großem Grauen mit den Auswirkungen von Kennzahlen auf Menschen - ihre Arbeitsweise und ihre Wahrnehmung. Leider ist die Beobachtung wiederholbar, dass Kennzahlen das Verhalten der Menschen steuert und sie schon mit relativ wenig Druck manipulierbar sind. Zumindest zum Schlechteren. Ob sie auch zu guten Menschen gepusht werden können, weiß ich nicht, konnte ich noch nicht beobachten. :-/

Neustes Beispiel ist mein Stammsupermarkt. Das Einkaufen dort macht gar keinen Spaß mehr. Offensichtlich haben sie die Mitarbeiterinnen auf Effizienz getrimmt. Und jetzt werde ich dort jedes Mal angeschnauzt, weil ich nicht schnell genug mache. Wenn man in bar bezahlt, macht man sich dort ja schon unbeliebt. Oder 14 Cent aus dem Geldbeutelchen rauskramt. Hallo, es brennt doch nicht! Lasst mich doch in Ruhe rumkramen und meinen Einkauf in meine Leinenbeutel packen. 

Hat doch neulich tatsächlich die junge Verkäuferin von mir verlangt, dass ich meine Einkäufe hinter der Kasse unsortiert in den Wagen werfe, den Platz frei mache und die Artikel dann woanders in Ruhe in meine Taschen packe. Für mich wäre das aber sowas von gar nicht effizient, wenn ich alles zweifach anfasse! Jetzt soll ich wohl auch noch ein schlechtes Gewissen haben, fürchte ich. Womöglich kriegt die Verkäuferin 50 Cent vom Gehalt abgezogen, weil ich ihren Durchsatz gebremst habe und ihre Kennzahlen verschlechtert. .-(

Ich weiß, solche Effizienzschulungen werden gerne mit Drohungen gewürzt. Meistens werden sie schon so motiviert: "Die Firma hat voriges Jahr Verluste gemacht und ihr langsamen, faulen Säcke seid daran schuld." Was recht lustig ist, weil nämlich in Firmen grundsätzlich im Kleinen gegeizt und im Großen verschwendet wird. Die Manager muss man mit Luxus motiviert halten, weil sie so wichtig sind, bei den Kleinen reicht ein regelmäßiger Arschtritt zur Motivation und putzige Hinweise darauf, dass es auf dem Arbeitsmarkt jederzeit Ersatz gibt. Beispielsweise wurden wir mal so nett darauf hingewiesen, dass ein indischer Projektleiter nur 10 % so viel kostet wie wir. 

Dabei weiß doch jeder: "Gut Ding will Weile haben." Wenn man zu schnell arbeitet, macht es nicht nur weniger Spaß, sondern strengt auch mehr an und man macht mehr Fehler. Am schnellsten ist man immer noch, wenn man einfach eines nach dem anderen erledigt. Wenn man sparen möchte, dann eben nicht (siehe Momo), indem man eine Aufgabe in 20 statt 30 Minuten durchpeitscht, sondern indem man sich überlegt, ob diese Aufgabe überhaupt nötig ist oder wie man sie vereinfacht, damit man sie ohne Eile schneller fertig bekommt. Kunden, die man herumhetzt und denen man "quick and dirty" liefert, kaufen zukünftig nämlich woanders, wenn sie können. 

So, und jetzt muss ich mal wieder was produzieren... :-)

Ich arbeite ja auch mit Kennzahlen. Um zu sehen, wie ich meine Zeit verbringe und wo ich noch optimieren kann. Nicht durch Hetzen, sondern durch strategische Entscheidungen!

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