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Die Intelligenz der Schildkröte

Ich habe zwei Schildkröten. Ich beobachte sie gerne und teste auch ihre Intelligenz ein wenig aus. Ihre Intelligenz muss eine besonders gute sein, denn immerhin hat diese Tierart eine lange Geschichte und viele ihrer Zeitgenossen überlebt. Und das, obwohl ihr Gehirn nur die Größe einer Erdnuss hat! Auf Größe kommt es also nicht an, sondern auf die Fokussierung der Rechenzeit auf das Wesentliche. 

Ich beobachte an den Schildkröten folgende Aspekte von Intelligenz, von denen die meisten bei der Künstlichen Intelligenz immer noch fehlen, auch bei ChatGPT:
- Verknüpfen von Ursache und Wirkung, Handlung und Folge, schnelles Lernen aus Erfahrung: Schildkröten wissen aus Erfahrung, dass gewisse Handlungen zu angenehmen oder unangenehmen Folgen führen. Dabei lernen sie sehr schnell. Sie muss nur ein Mal mit einem bestimmten Fehler schmerzhaft auf die Nase fallen, dann macht sie das kein zweites Mal. Eine KI braucht mindestens tausende von Testfällen, um  den wesentlichen Faktor zu extrahieren, der zur schmerzenden Nase geführt hat. Ich vermute, es liegt daran, dass die Schildkröte sehr wohl unterscheiden kann zwischen Dingen, die nicht den Schmerz verursacht haben und dem, was in dieser Situation neu war. Sie nutzt also ihre bisherige Lebenserfahrung. Alles Gewohnte ist schonmal als harmlos etikettiert. Dann kann es nur der neue Faktor sein, der den ungewohnten Schmerz verursachte. Und den vermeidet man. 
- Gezieltes Verfolgen eines Ziels: Angenehme Effekte haben teilweise ihre Ursache. Sobald die Schildkröte die Ursache zu einem erwünschten Zustand erkannt hat, ruft sie ihn gezielt hervor. Mein Männchen hat beispielsweise erkannt, dass wenn er an den Teppichfransen nagt, dass ich dann Futter holen gehe. Wenn er Hunger hat, nagt er also am Teppich und schon regnet es Salat. Interessant ist, dass auch komplexere Tätigkeiten durchgeführt werden können oder Dinge getan werden, die eine längere Konzentration verlangen. (Grundsätzlich haben die Schildkröten eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und lassen sich leicht ablenken. Darum finde ich das bemerkenswert.) Ich wette, dass Schildkröten auch komplexe Labyrinthaufgaben bewältigen könnten, wenn sie wüssten, dass am Ende Futter auf sie wartet. Jedenfalls nehmen sie lange und komplexe Wege auf sich, um an einen sonnigen Platz zu gelangen. Und zwar auch dann, wenn es sich nicht um einen gewohnheitsmäßigen Pfad, sondern um eine Neuentdeckung handelt.
- Überwinden von Hindernissen durch Trial and Error: Sie hassen es, eingesperrt zu werden. Darum können sie stundenlang und tagelang beharrlich nach einem Ausgang aus dem Gefängnis suchen, insbesondere wenn es ihnen zu eng, dunkel, kalt oder feucht ist. Sie graben, sie klettern, sie schieben und drücken. Sie können lernen, Türen und Schiebetüren aufzumachen. Wenn es ein Mal geklappt hat, dann sind sie nicht mehr aufzuhalten, denn sie wiederholen den Erfolg. 
- emotionale Bewertung von Situationen: Ihre große Stärke gegenüber einer KI ist wohl, dass sie Situationen sehr eindeutig als angenehm oder unangenehm bewerten. Genau darum wiederholen sie einen schmerzhaften Fehler selten nochmal. Ich bin sicher, dass ihre starke Emotionalität der entscheidende Faktor ist, warum sie Wichtig von Unwichtig unterscheiden können. Darum denke ich, dass eine KI ebenfalls deutlich schneller lernen würde, wenn sie Situationen emotional oder ethisch werten könnte. Bisher sah ich Ethik als ein Ziel, d.h. die KI soll so programmiert werden, dass sie ethisch handelt und unethische Handlungen bleiben lässt. Ich denke aber inzwischen, dass Ethik ein Hilfsmittel zu besserer Effizienz und Effektivität der KI wäre.
- Gewohnheit: Grundsätzlich sind Schildkröten Gewohnheitstiere, die jeden Tag alles gleich machen. Ich kann geradezu meine Uhr danach stellen, dass sie immer zur selben Uhrzeit um Futter betteln, falls ich nicht pünktlich liefere. In der Natur gibt es ja auch viele Regelmäßigkeiten: Die Sonne geht morgens auf, mittags ist es heiß, abends geht die Sonne unter. Das gute Futter wächst gerne dauerhaft an denselben Stellen immer wieder nach. Wasser gibt es nur an ein paar wenigen Orten. Also trabt man gewohnheitsmäßig jeden Tag denselben Parcours ab. Das kostet wenig Denkenergie und gibt emotionale Sicherheit. 
- Bemerken von Veränderungen und Neugier: Obwohl (oder weil?) die Schildkröten gekonnt ignorieren, was bisher immer so war, fällt ihnen immer sofort auf, wenn sich etwas verändert hat. Irgendetwas, das gestern noch nicht dort stand, wird ganz aufmerksam betrachtet, meist auch ausgetestet, z. B. beschnüffelt, testweise fortgeschoben oder man klettert daran hoch. Auf diese Weise wird das Neue in das Weltbild integriert und falls möglich werden neue Möglichkeiten entdeckt. Am zweiten Tag ist das Ding schon nicht mehr so interessant. 
- Kreativität: Da sich die Umweltbedingungen ändern können (z. B. durch Klimaveränderung oder auch kleinere Änderungen wie dass die bisher geschlossene Tür offen steht oder ein Zaun verrottet ist), ist es keine gute Überlebensstrategie, immer alles gewohnheitsmäßig gleich zu machen. Darum trifft das Gehirn der Schildkröte hin und wieder ein Kreativitäts-Blitz. Das heißt, scheinbar aus heiterem Himmel und ohne ersichtlichen Anlass probiert sie etwas Neues. Oder etwas Altes wieder. Die Mauer steht schon seit Jahrzehnten dort und hat noch nie nachgegeben, aber trotzdem versucht sie es nochmal, ob sie sie wegdrücken oder erklimmen kann. Auch für Gegenstände, die schon lange unbeachtet herumstanden, findet die Schildkröte plötzlich neue Nutzungsmöglichkeiten. Ich habe noch nicht ganz herausgedunden, nach welchem Algoithmus das funktioniert, habe aber beobachtet, dass sie manchmal Tage haben, von denen ich sage "Heute hat sie einen Clown gefrühstückt." An so einem Tag werden nämlich gleich mehrere neue Späße ausprobiert. Da muss ich gut auf sie aufpassen, weil sie auf sehr dumme Ideen kommen könnten. Normalerweise kann ich mich darauf verlassen, dass sie ihre gewohnheitsmäßigen Dinge tun und was bisher nicht beachtet wurde, wird auch weiterhin ignoriert. 
- Spaß an Herausforderungen und am Erfolg / Lernen: Obwohl Schildkröten richtig blöde Dinge nur ein Mal versuchen, lassen sie sich von Misserfolgen nicht leicht entmutigen. Wenn sie etwas ausprobieren, das nicht gleich funktioniert, sind sie frustriert, aber der Schmerz ist nicht groß genug, um aufzugeben. Eher im Gegenteil. Sie können recht hartnäckig immer wieder dasselbe versuchen. Ein Mal sagte ich dummerweise zu meiner Schildkröte: "Warum versuchst du das immer wieder? Das hat doch schon hundert mal nicht geklappt!" Ich war ganz beschämt, als es ihr dann beim 200ten Mal doch gelang. Eben das ist es. Sie macht regelm#ßig die Erfahrung, dass wenn man etwas oft genug versucht, dann klappt es irgendwann doch. Offensichtlich werden dann Belohnungshormone im Gehirn ausgeschüttet. Denn sobald etwas nach langem Ausprobieren geklappt hat, wiederholt sie es sofort, manchmal stundenlang, bis sie völlig erschöpft ist. Und tags darauf wieder! Offensichtlich fühlt sich für sie gut an, etwas Neues gelernt zu haben. 
- Unterscheiden zwischen Lebewesen und Dingen: Schildkröten können einen Menschen als intelligentes Wesen erkennen und mit ihm kommunizieren. Das ist genau genommen eine sehr intelligente Leistung, denn schließlich sehe ich nicht wirklich aus wie eine Schildkröte. Manchmal kommt es dabei auch zu Fehlleistungen. Erkennungsmerkmale von Lebewesen sind offensichtlich diese: Augen im Gesicht; Form und Größe; eigenständige Fortbewegung. Das schließe ich aus folgenden drei Fehlern, die meine Süßen schon gemacht haben:
Fehler 1: Männchen verprügelt das Einhorn. Eines Tages verprügelte das Schildkrötenmännchen mit großer Wut meinen Kofferanhänger in Form eines Einhorns, der knapp über dem Boden hing. Obwohl er recht aggressiv ist, vergeht er sich nie an Dingen, sondern immer nur an Lebenwesen, die er als Eindringlinge in sein Revier wertet. Ich vermute, dass es die beiden Augen des Einhorns waren, die ihn auf die Idee brachten, hier von einem Feind angestarrt zu werden. Dass sich der Typ nicht wehrte, tat nichts zur Sache.
Fehler 2: Das Männchen greift meine nackten Füße an. Solange meine Füße in Socken stecken ist alles in Ordnung. Aber wenn ich barfuß bin, dann stellt sich das Männchen breitbeinig drohend vor meinem Fuß auf mit einer Körpersprache, die ausdrückt: "Was tust du hier, Fremder? Das ist mein Revier!" Dann beguckt er sich alle fünf Zehen, vermutlich auf der Suche nach dem Kopf. Da keine meiner Zehen Augen besitzt, nimmt er sich im Default eine der mittleren Zehen und beißt feste zu. Ich mache dann immer Witze von wegen: "Den Typ mit den fünf Köpfen konnte ich noch nie leiden." Hier ist es wohl Größe, Form und Farbe, die ihn auf die Idee bringt, einen Schildkrötengegner vor sich zu haben. Als ich neulich beige Socken trug, stutzte er nämlich auch kurz. 
Fehler 3: Das Weibchen entdeckte einen Käfer auf dem Balkon und beschnupperte ihn, ob es wohl Futter sei. Sie machte schon den Mund auf, um ihn zu essen, da sah sie ihn fortlaufen und wich entsetzt zurück als ginge durch ihr Gehirn: "Hilfe, beinahe hätte ich etwas Lebendiges gefressen!" Landschildkröten essen normalerweise keine Lebewesen, außer sie liegen schon tot herum.
- Verlernen: Als das erste Mal die Schildkröten aus dem Winterschlaf kamen, war ich sehr enttäuscht. Ich dachte, wir könnten dort weitermachen, wo wir im Herbst aufgehört hatten. Stattdessen reagierte das Weibchen im Stil von: "Wer sind Sie? Warum fassen Sie mich an? Ich weiß nicht, ob ich das mag!" Im Herbst konnte sie vom Kraulen gar nicht genug bekommen, nun war alles vergessen. Ich musste mir ihre Freundschaft neu erarbeiten. Inzwischen weiß ich das Vergessen zu schätzen, denn es hat zahlreiche Vorteile: Schlechte Angewohnheiten vom vorigen Jahr sind vergessen. Plötzlich wissen sie auch nicht mehr, wie die Schiebetüre aufgeht. Erziehungsfehler vom vorigen Jahr sind auch erledigt, und ich kann eine andere Erziehungsstrategie ausprobieren. In der Natur hat es sicher auch Vorteile, weil sie sich schneller daran gewöhnen können, falls sich über den Winter die Landschaft, die Futtersituation, die Tageslänge oder die Gruppenzusammensetzung geändert hat. Wenn der Ehepartner es nicht über den Winter geschafft hat, wiegt vermutlich auch der Schmerz weniger schwer. Dieses Verlernen kann das mildern, was man in der KI als Überanpassung bezeichnet, also spezifisches Wissen, das eventuell zukünftig gar nicht mehr gilt. Jedes Jahr entdecken die Schildkröten ihre Umgebung neu, erarbeiten sich neue Routinen und handeln ihre Beziehungen neu aus. Vollständig ist die Amnesie aber nicht. Ich erinnere mich mit Schmunzeln an die überschäumende Freude des Weibchens, als ihr Männchen mehrere Wochen nach ihr aus dem Winterschlaf kam. Hatte sie vorher vermutlich nicht wirklich verstanden, warum das Essen nicht so richtig schmeckt, war nun die Wiedersehensfreude riesig. Ich war ein wenig neidisch, ehrlich gesagt. 

So, ich hoffe, das war nicht zu lang. Aber falls ich mal meine eigene KI programmieren sollte, werde ich mich sicher an der Intelligenz der Schildkröten orientieren. Das sind schon recht pfiffige, kluge Tiere, obwohl doch eigentlich recht schlicht und unkompliziert!

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Workshop on Empirical Methods bzw. Requirements Engineering

Ich möchte auf die beiden Workshops hinweisen, die ich im Programmkomitee unterstütze:

6th International Workshop on Empirical Methods in Conceptual Modeling (EmpER'23) auf der 42nd International Conference on Conceptual Modeling (ER2023)
https://emper-workshop.github.io/2023/

 

 

8th International Workshop on Empirical Requirements Engineering (EmpiRE) 2023 auf der 31st IEEE International Requirements Engineering Conference
https://sites.google.com/unitn.it/empire2023/
 

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Scrum Guide mit weiblichen Rollenbezeichnungen

Interessiert stelle ich gerade fest, dass es den deutschsprachigen Scrum Guide in drei Varianten gibt: geschlechtsneutral, männlich und weiblich. In der weiblichen Fassung stehen alle Rollen in der femininen Form, also Product Ownerin, Scrum Masterin und Developerinnen. Mal abgesehen davon, dass das Denglisch ist: Ich stelle bei meiner eigenen Schreiberei immer wieder fest, dass das Leben deutlich einfacher wäre, wenn wir uns darauf einigen könnten, dass Rollenbezeichnungen geschlechtsneutral sind. Ansonsten gibt es in Informatik-Fachtexten gar nicht viel zu gendern. Außer man möchte auch noch die Rechnerin verweiblichen. 

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