Immer wieder ergeben Studien, dass in Deutschland der Bildungsweg von der sozialen Herkunft abhängt. Und dann wird unser Bildungssystem dafür verantwortlich gemacht. Beispielsweise hier:
Was aber meines Wissens noch nie untersucht wurde ist die Einstellung der angeblichen "Opfer". Wollen denn die Kinder aus "bildungsfernen Schichten" etwas lernen? Streben sie den Aufstieg durch Bildung überhaupt an? Ihr eigenes Zutun ist doch auch ein entscheidender Faktor.
Ich denke, weder unser Schulsystem oder Hochschulsystem noch die Lehrer und Dozenten wirken besonders diskriminierend. Was ich aber oft beobachte ist, dass Bildung und Wissen in Deutschland allgemein nicht hoch geschätzt werden. Gerade auch die intellektuelle Arbeit ist fast nichts wert. Als Klempner hat man einen deutlich höheren Stundensatz als ein Hochschuldozent. Und regelmäßig muss ich mir anhören, ich hätte keinen "richtigen Beruf" gelernt - im Gegensatz zum Klempner - und ich würde keine "richtige Arbeit" machen. Weil ich ja nichts herstelle, was alle Menschen brauchen. Arbeiter beklagen sich, dass die "Studierten" ihnen vor die Nase gesetzt werden, obwohl die doch "gar nichts können".
Diese Einstellung schwappt auch in die Vorlesungen hinüber. Manche Studenten sind der Meinung, was ich lehre, das würde in der Praxis ja sowieso keiner benötigen und sei es darum nicht wert, gelernt zu werden. Oder jemand studiert einfach Informatik, weil er gehört hat, da gibt es gutbezahlte Jobs. Für die Informatik interessiert er sich aber nicht und verkündet auch schon, dass er eh nicht vor habe, später zu programmieren. Statt sich zu freuen, dass man mehrere Jahre Vollzeit Zeit dafür hat, um Wissen für den späteren Beruf zu sammeln, wird genörgelt, wenn abzusehen ist, dass die Vorbereitung auf eine Hochschul-Prüfung mehr als einen Nachmittag Aufwand bereiten wird. Manchmal werden sogar diejenigen, die bei Übungen mitmachen oder Fragen stellen, von den Alphatieren des Kurses als "Streber" verhöhnt. Und so weiter. (Fußnote: Darum sind Studierende, die schon Berufserfahrung haben, viel höher motiviert. Sie wissen nämlich, dass sie genau das Wissen aus der Vorlesung mal brauchen werden. Und sie wollen beruflich und sozial aufsteigen.)
Ob die Studenten, die am liebsten ihre ECTS-Punkte geschenkt haben möchten, ohne etwas zu lernen (und später auch Geld verdienen ohne zu arbeiten?), aus bildungsfernen Schichten stammen, kann ich natürlich nicht beurteilen. Wenn ich mal spekulieren darf, dann sehe ich da auch Studenten, die vermutlich gerade darum so hoch motiviert sind, weil sie wissen, dass sie sich mit ihrem Hochschulabschluss und dem erworbenen Wissen den Weg in eine bessere Zukunft erarbeiten. Aber manchen Studierenden fehlt eine grundlegende Überzeugung von dem Wert des Wissens oder der Arbeitsweisen, die an der Hochschule gelehrt werden. Erst neulich musste ich mir wieder von einem Studenten anhören, Zitieren sei für Dumme. Wissenschaftler wie er haben alles Wissen im Kopf und müssen darum keine Literatur zitieren.
Nicht zu vernachlässigen ist auch der Einfluss effizienter Arbeitstechniken, die gerade an der Hochschule bei ihrem hohen Tempo und der zu bewältigenden Stofffülle nötig werden. Ich habe diese von meinen Eltern gelernt und zusätzlich noch Bücher über dieses Thema gelesen. Ich bezweifle, dass das in bildungsfernen Familien ebenfalls gefördert wird. Vielleicht wird eher beim Abendessen gemeinsam über die weltfremden Professoren herzogen, die viel zu viel verlangen. Weil man es eben nicht besser weiß.
Darum wäre mein Vorschlag, auch solche Fragen in den Bildungsstudien mal abzuprüfen: Wie steht es mit der Einstellung zum Wert des Wissens, von Bildung und formalen Abschlüssen? Sind effiziente Arbeitstechniken vorhanden?