Ich weiß ja nicht, ob Friday for Future oder die letzte Generation bei mir mitliest. Wohl eher nicht. Aber ich möchte euch trotzdem gerne einen Brief schreiben.
In der Sache habt ihr Recht: Die Hütte brennt, es ist nicht fünf vor zwölf, sondern schon viel zu spät. "Fünf vor zwölf" war so eine Redewendung, die wir Ökos in den 90ern verwendet haben. Es war damals schon bekannt, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, um den Planeten zu retten.
"Warum habt ihr nichts unternommen?", fragt ihr uns wütend, aber ignorant.
Wir haben eine ganze Menge gemacht. Hippies haben das minimalistische Leben praktiziert, Ökos ihre Socken selbst gestrickt und Brot gebacken, FCKW in Spraydosen wurde verboten (wegen dem Ozonloch), Blei in Batterien verboten (wegen dem Grundwasser), den Unternehmen hohe Umweltauflagen aufgebrummt. Nach und nach wurde der Müll immer mehr getrennt und Rohstoffe möglichst noch recycelt. Zahlreiche NGOs wurden gegründet, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Wüste zu begrünen, den Urwald zu schützen, Tiere und Pflanzen vor dem Aussterben zu bewahren, die Ausbeutung des Menschen durch Menschen zu verhindern, ökologische Landwirtschaft auf dem Planeten zu verbreiten, den Autoverkehr zu reduzieren und die Rechte von Radfahrern und Fußgängern zu verteidigen. Ohne diese enormen Anstrengungen wäre alles heute so richtig, richtig kaputt. Man wüsste noch nicht mal, was man alles verloren und zerstört hat, weil es nicht mal Informationen und Daten gäbe.
Die Themen in den 90ern und 00ern waren andere als heute: das Ozonloch, saurer Regen, aussterbende Tier- und Pflanzenarten, verseuchte Flüsse, Grundwasser und Luftverschmutzung in Deutschland, wuchernde Müllberge. Diese Probleme sind noch nicht gelöst, sondern verlangen weiterhin eine kontinuierliche Anstrengung. Viele der Maßnahmen sind zum Glück inzwischen Routine geworden.
Weitere Themen harren immer noch ihrer Lösung: Beispielsweise der hohe Energieverbrauch unseres Lebensstils, der nicht mehr lange durch billiges Erdöl gedeckt werden kann. Auch hieran wird seit Jahrzehnten gearbeitet, aber mangels Unterstützung in der Bevölkerung konnte unsere Regierung hier nur langsam vorankommen. Ich bin seit zwanzig Jahren aktives Mitglied von autofrei Leben! e.V. und weiß darum von unseren Infoständen, wie wenig sich der Normalbürger vorstellen kann, der Umwelt zuliebe auf sein Auto oder Flugreisen zu verzichten. Zu hoch wohl der gesellschaftliche Druck, seinen Wohlstand mit umweltschädlichen Statussymbolen zu beweisen. Von der Bevölkerung gab es stets nur wenig Unterstützung für umweltfreundliche Ideen von Regierung, Vereinen und Firmen.
Seit Kurzem sehe ich ein Umdenken beim Normalbürger. Ich würde gerne glauben, das sei das Ergebnis der jahrezehntelangen Bemühungen von Ökos und Regierung. Aber vielleicht hat es doch einfach mal ein paar Portionen Tomatensuppe oder Kartoffelbrei an der richtigen Stelle gebraucht. Menschen entscheiden ja bekanntlich nicht rational aufgrund von Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern tun das, was gerade "in" zu sein scheint.
Wenn jetzt die Balkon-Solaranlage und das Elektroauto "in" sind, werden sie also gekauft und die Automobilindustrie bleibt nicht mehr wie bisher auf ihren für den Umweltschutz getätigten Investitionen sitzen. Hoffen wir, dass es sich nicht um eine vorübergehende Mode handelt. Oder um Ablasshandel im Stil von "Ich habe ein teures E-Auto, also darf ich weiterhin so viel fahren wie bisher oder noch mehr. Jeder gefahrene Kilometer rettet schließlich den Planeten." oder "Ich erzeuge Solarstrom, also habe ich einen Thailandurlaub gut."
Ich war gerade nochmal auf der Friday for Future Webseite. Bei jedem Besuch ist sie schrecklicher. Beim ersten Mal suchte ich vergeblich eine Teilseite mit Titel "Selbstverpflichtung: Hiermit verpflichte ich mich, keine Flugreisen mehr zu machen, zu einem Ökostrom-Anbieter zu wechseln, ...". Nichts dergleichen. Nur Forderungen, Forderungen, Forderungen. Dieser Teil bläht sich immer weiter auf. Dabei sehe ich da kaum etwas, das nicht sowieso schon am Laufen wäre. Netter Trick. Man verlangt Maßnahmen, die schon unterwegs sind und behauptet hinterher, die Regierung hätte das ohne die Demos niemals gemacht. Das Gegenteil ließe sich nie beweisen.
Das Gute an den Demos ist, dass sie der Regierung die Erlaubnis geben, notwendige Maßnahmen in die Tat umzusetzen. Ihr habt es vermutlich nicht mitbekommen, aber unsere Regierung hat schon unglaublich viel Geld in Umweltforschung investiert und eine Menge Maßnahmen in der Pipeline. Sie haben aber vor allem das umgesetzt, was der Bevölkerung keine allzu großen Nachteile brachte. Man will ja von der genusssüchtigen Bevölkerung nicht abgewählt werden. Eure Regierung kennt eure Vorlieben und tut immer genau das, was ihr wollt. Unsere Demokratie funktioniert nämlich. Und die Firmen stellen übrigens genau das her, was ihr kauft. So funktioniert der Kapitalismus! Alle Macht geht tatsächlich vom Volke aus, meine jungen Freunde! Oder wie Thoreau mal schrieb: "Wenn Geld die Welt regiert, müssen wir uns genau überlegen, was wir mit unserem Geld machen."
Ich hoffe darum, eure Demonstrationen bedeuten, dass ihr die Bemühungen unserer Regierung mittragen werdet, mit allen Nachteilen, die sie euch in eurem echten Leben bringen. Dass ihr euch verantwortlich fühlt für die Zukunft unseres Planeten und entsprechend lebt. Also nicht jetzt demonstrieren und wenn die Demos Wirkung zeigen, dann sagen: "So war das nicht gemeint. Ich dachte, die Rettung der Welt finanzieren die Firmen und Regierungen mit ihren Überschüssen." Witzigerweise: Falls es da Überschüsse gibt, habt ihr die auch bezahlt. Von nichts kommt nichts.
Noch witziger: Umweltschutz spart Geld. Stromsparen bringt der Umwelt mehr als Ökostromverbrauchen, Verzicht mehr als der Kauf teurer Bioprodukte. Studien haben gezeigt, dass gerade arme Menschen einen besonders kleinen ökologischen Fußabdruck haben, weil sie nichts verschwenden.
So, und jetzt mache ich mein Mittagessen. Um Strom zu sparen, habe ich neulich gleich einen Riesentopf voll Kartoffelknödel gekocht, die ich jetzt im stromsparenden Miniofen nur noch schnell überbacke. Der Strom ist Öko, die Kartoffeln habe ich selbst angebaut. Mit meinen paar Quadratmetern Citygardening und meinem neuen Hobby Regrowth auf dem Fensterbrett kann ich zwar meinen Kalorienbedarf nicht decken und auch den Planeten nicht retten, aber egal. Beispielsweise erledige ich hier im Dorf alle Erledigungen zu Fuß. Damit komme ich im Jahr auf ein paar hundert Kilometer eingesparte Fahrkilometer, die andere Leute mal kurz bei einem Wochenendausflug verschwenden. Aber jeder ist für seinen ökologischen Fußabdruck allein verantwortlich. Der wird nicht mit anderen Familienmitgliedern verrechnet oder so.
Langer Rede kurzer Sinn: Nachdem ihr alle Medien mit euren Forderungen vollgepflastert habt, könnt ihr ja als nächstes dann euer Leben umgestalten, um das umzusetzen, was ihr gefordert habt. Eure Demonstrationen sind nämlich nicht nur eine Verpflichtung für die Regierung, sondern auch für euch. Wie gesagt, fünf vor zwölf war in den 90ern.
Wir alle müssen unseren Beitrag leisten, nicht nur die Regierungen, Hersteller, Händler, Landwirte und so weiter!
Andrea Herrmann