Neulich habe ich zwei neue feministische Wörter gelernt: Misogynie und Mansplaining. Beide Phänomene kenne ich natürlich von klein auf. Wir wachsen damit auf, sie sind Teil unserer Kultur. Darum bleiben sie unbewusst, was sie umso mächtiger macht.
Kate Manne hat das wissenschaftlich fundierte Buch "Down Girl - Die Logik der Misogynie" geschrieben (Suhrkramp, 2019). Ich fand es sehr erhellend, aber auch etwas langatmig. Der Schwerpunkt liegt für meinen Geschmack zu sehr auf tödlichen Verbrechen statt auf der alltäglichen Benachteiligung. Untersucht werden außer Morden der öffentliche Umgang mit Politikerinnen und in einem Nachklapp die unterschiedlichen Bewertungen, die Professorinnen im Vergleich zu Professoren erhalten. Die Untersuchungen von Frau Manne beziehen sich auf die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien, aber ich konnte beim Lesen keinen Unterschied zu Deutschland feststellen, außer dass unsere Bundeskanzlerin sich im misogynen System erfolgreicher geschlagen hat als die beschriebenen Beispiele, z.B. Hillary Clinton. Aber in Deutschland gibt es auch keinen Donald Trump, der als Lehrbuchbeispiel des Machos sehr schlecht wegkommt.
Im Gegensatz zum Sexismus beschreibt Misogynie diejenigen Mechanismen, die bewirken, dass das patriarchalische System stabil bestehen bleibt. Es wird nur innerhalb des Berufslebens subtiler in seinen Mitteln. Wo man früher Frauen bei der Bewerbung plump wegen ihres Geschlechts ablehnen oder nach der Einstellung diskriminieren konnte, muss man heutzutage logisch klingende sachliche Argumente vorbringen oder Studien der Genderforschung missinterpretieren. Frau Manne schreibt von der "Banalität der Misogynie" (S. 333).
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Restaurant. Sie wissen genau, was Sie dort erwarten dürfen: Sie setzen sich an einen freien Tisch, und die Bedienung kümmert sich freundlich und zuvorkommend um Sie. Darauf haben Sie ein Recht. Heute jedoch ist alles anders. Die Bedienung beachtet Sie gar nicht. Sie suchen sich selbst einen Platz, aber das Personal hängt faul herum, flirtet mit anderen Gästen und zuletzt stellen Sie fest, dass in diesem Restaurant die Gäste die Kellnerin bedienen. Wie reagieren Sie? In dieser Situation ist natürlich jeder verwirrt und wütend. Hinzu kommt noch der Hunger, wegen dem man das Restaurant aufgesucht hat. Dieses Restaurant erfüllt Ihre Bedürfnisse nicht, weil die Kellnerin ihren Job nicht macht!
Das Problem bei diesem Szenario ist, dass es sich nicht nur in Restaurants abspielt, sondern auch außerhalb. Laut den Regeln der Misogynie sind Frauen grundsätzlich dazu verpflichtet, lächelnd und zuvorkommend Männer zu bedienen. In welchem Maße, dafür gibt es Regeln. Gewisse Dienstleistungen schuldet die Ehefrau natürlich nur ihrem Ehemann. Doch manche Frauen weigern sich, ihre Pflicht zu erfüllen! Sie verweigern Lächeln, Sex und Unterwürfigkeit denjenigen Männern, die ein Recht darauf hätten. Die Kollegin will plötzlich auch Karriere machen und Männern Anweisungen geben. Manche Frauen verweigern ihre Pflicht, indem sie ohne Partner leben oder eine Partnerschaft mit einer Frau eingehen. Die schöne Weltordnung kommt durcheinander! Rechte werden den Männern vorenthalten, die ihnen zu stehen. Das macht sie wütend, und sie kämpfen vehement gegen diese Ungerechtigkeit und gegen das Chaos, in dem der Gast die Kellnerin bedienen soll.
Die Grundlage der Misogynie bildet die selbstverständliche Einstellung, dass Männer in der gesellschaftlichen Hierarchie über Frauen stehen. Von Frauen wird erwartet, dass sie gegenüber Männern fürsorglich sind. Sie sind dazu verpflichtet, den Männern Aufmerksamkeit, Güte, Mitgefühl, Trost, Fürsorge, Sex, Kinder und Haushaltsdienstleistungen zu geben. Männliche Güter sind Geld, Macht, Status, Aufmerksamkeit, Respekt. Um diese dürfen Frauen nicht mit Männern konkurrieren. Hauptziel der Misogynie ist es, "diese gesellschaftlichen Rollen durchzusetzen und zu überwachen und moralische Güter und Ressourcen von solchen Frauen zu bekommen - und gegen deren Ausbleiben oder vermeintliche Vernachlässigung oder Verrat zu protestieren" (S. 15). "Obwohl Misogynie häufig einen persönlichen Ton anschlägt, ist es am produktivsten, sie als politisches Phänomen zu begreifen. Ich vertrete insbesondere die Ansicht, dass Misogynie als System zu verstehen ist, das innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsordnung dafür sorgt, dass die Unterwerfung von Frauen durchgesetzt und kontrolliert und die männliche Herrschaft aufrechterhalten wird." (S. 78)
Passend dazu ist neulich ein entsprechendes Verbrechen passiert, das sich mit Hilfe von Misogynie sehr gut erklären lässt: Eine Profi-Radfahrerin wurde beim Training von einem Autofahrer angefahren und stürzte. Sie beschimpfte ihn deswegen. Daraufhin schlug er sie mit einem Prügel zusammen, schleifte sie verletzt in sein Auto und nahm sie mit zu sich nach Hause. Dort hat er sie gequält und auf verschiedene Arten vergeblich versucht, sie zu töten. Sie bemerkte die vielen Orchideen auf dem Fensterbrett und lobte sie. Daraufhin erzählte er ihr, dass er mal Gärtner war und dann folgte die Geschichte von seinem verpfuschten Leben. Sie heuchelte Verständnis, und daraufhin war er netter und fuhr sie sogar nach Hause. Da ihr Fahrrad einen Fahrradcomputer hat, konnte die Polizei sein Haus und den Mann lokalisieren.
Mansplaining ist eine der Maßnahmen der Misogynie. Mansplaining findet immer dann statt, wenn ein Mann einer Frau unnötig, unerwünscht oder sogar gegen ihren ausdrücklichen Willen irgendetwas erklärt, was sie besser weiß als er. In einem ZEIT-Artikel wird von einem Fall erzählt, wo ein Mann trotz Gegenwehr auf einer Party seiner Gesprächspartnerin das Buch erklärt, das sie selbst geschrieben hat. Kommt mir bekannt vor. Als ich jung war, dachte ich noch: "Dann lass ich ihn halt erzählen, wenn es ihm Freude macht." Problem dabei ist: Hinterher wird er behaupten, ich habe genauso wenig Ahnung gehabt wie er sich das einbildete. So wie mir mal ein Vorgesetzter die objektorientierten Code-Metriken erklärte, die ich selbst in meinen Vorlesungen lehre. Als ich widersprach, das wisse ich schon, behauptete er, das könne ich nicht wissen, weil das in Vorlesungen üblicherweise nicht gelehrt werde. Dass diese Metriken durchaus Teil meiner Vorlesung in Softwarearchitektur seien, hielt ihn nicht davon ab, mir alle sechs Metriken ausführlich am Whiteboard zu erklären und hinterher zu behaupten, meine Einarbeitung sei unglaublich aufwändig, weil er bei mir ganz bei null anfangen müsse und ich gar nichts wisse. Also, ja, ich kenne das Phänomen schmerzhaft. Bei Parties kann es mir egal sein, wenn ein Fremder mir irgendetwas erklärt, was ich schon weiß. Dabei langweile ich mich dann eben genauso wie wenn er mir stolz erzählt, was für ein tolles Auto er fährt oder dafür bewundert werden will, dass er ständig auf Dienstreisen geht (im Gegensatz zu mir, haha).
PS: Wie stark die Misogynie bei Ihnen selbst wirkt, können Sie leicht feststellen. Was haben Sie gedacht, als ich von dem Chef erzählte, der mir die Grundlagen der objektorientierten Metriken erklärte?
a) Dachten Sie: "Unverschämtheit, was dieser Mann sich erlaubt! Einer weltweit bekannten Expertin zu unterstellen, dass sie nicht mal die Grundlagen kennt!"
b) Oder dachten Sie: "Na, der wird schon gute Gründe dafür gehabt haben, bei ihrer Einarbeitung ganz bei Null anzufangen."
c) Oder dachten Sie: "An ihrer Stelle würde ich mit meiner Dummheit nicht auch noch prahlen!"
(a) wäre mir natürlich am liebsten. Wenn Sie spontan (b) und / oder (c) gedacht haben, sind Sie automatisch davon ausgegangen, dass der Mann mit dem höheren Status immer Recht hat. Dabei kennen sie den gar nicht. Der Hinweis auf die Einarbeitung zeigt, dass ich noch gar nicht lange dort gearbeitet habe, und der Chef mich noch nicht gut kannte. Tatsächlich habe ich Grund zu der Annahme, dass er meinen Lebenslauf nicht gelesen hatte. Warum sollte man den Lebenslauf einer jungen Frau lesen, die gerade "frisch von der Uni kommt", wie er immer formulierte? Was kann da schon drin stehen?? Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon weit mehr als 10 Jahre Beruferfahrung, was er aber nicht wusste. Was auch immer ich über meine bisherige Berufserfahrung erzählte, überhörte er einfach. Er ging selbstverständlich davon aus, dass ich nichts weiß. Das ist alles Misogynie!!