Vor circa zehn Jahre forschte ich mal zur Risikowahrnehmung, im Rahmen meiner Habilitation. Mir ging es natürlich konkret um Fehlentscheidungen im Software Engineering aufgrund falsch eingeschätzter IT-Risiken. Aber dabei stöberte ich natürlich auch interdiszplinär in der Forschung der anderen Disziplinen, die sich mit diesem Thema beschäftigen wie Psychologie und Medizin. Dieses Thema wird anlässlich von Corona wieder ganz aktuell und die Forschung erklärt unsere Probleme, das Risiko intuitiv korrekt einzuschätzen und die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zu beurteilen. Der Umgang mit diesem unsichtbaren Gegner ist ähnlich schwierig wie der Umgang mit Radioaktivität. Wir haben dafür keine Sinnesorgane und auch keine angemessene Intuition. Umso wichtiger ist es in einer solchen Sache, den Experten zu vertrauen. Die Virologen können Ansteckungskennzahlen ermitteln und die Epidemiologen wissen, was dieser Wert für die Gesellschaft und die Welt als Ganzes bedeutet.
Unsere Probleme mit der Risikowahrnehmung sind hier die bekannten:
Umgang mit geringen Wahrscheinlichkeiten: Für kleine Zahlen fehlt uns das passende Vorstellungsvermögen. Eine kranke Person können wir uns vorstellen, auch 50 kranke Leute. Aber wie viel sind 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner? Das sind 0,05 Prozent, und kann man sich schwerlich als Tortendiagramm vorstellen. Machen wir die Zahl nach den Regeln der Kunst anschaulicher: Jede Woche steckt sich dann eine von 2000 Personen an. Eine Gruppe mit 2000 Mitgliedern ist größer als ich mir sie vorstellen kann. Aber lassen wir mal 10 Wochen mit dieser Infektionsrate vergehen, dann ist eine von 200 Personen krank. Wenn man einen ICE richtig voll macht, hab ich gelesen, passen da 800 Fahrgäste rein. Darunter wären also vier Infizierte, also ein Passagier in zweieinhalb Wochen.
Die Verfügbarkeitsheuristik bzw. der Availability Bias führt dazu, dass wir die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr entsprechend der Anzahl der Fälle abschätzen, die wir kennen oder uns vorstellen können, die also mental verfügbar sind. Allgemeine Fachartikel oder Statistiken erreichen uns emotional nicht. Je mehr man aber über konkrete Krankheitsfälle liest, für umso wahrscheinlicher hält man grundsätzlich eine Infektion. Ich jedenfalls kenne bisher nur eine einzige Person persönlich, die Corona nachweislich hatte. Aber ich habe natürlich ganz viel gelesen...
Der Optimistic Bias führt dazu, dass wir ein Risiko für uns selbst geringer einschätzen als für andere, selbst wenn uns die Statistiken vollständig klar sind. Man glaubt, das Ansteckungsrisiko sei für einen selbst geringer als für die anderen. Man berücksichtigt bei dieser Einschätzung nur diejenigen Faktoren, die tatsächlich das Risiko senken, aber nicht die anderen. Darum hört man so oft Klagen, es gäbe so viele, die ihre Maske nicht tragen. Eigentlich wäre es ihnen vermutlich egal, aber wenn es viele gibt, die Fehler machen, dann, so die beruhigende Schlussfolgerungen, werden die zuerst krank. Leider muss das nicht so sein. Objektiv betrachtet, finde ich, sind es nur wenige, die ihre Nase frei lassen, und ich denke mir, solange wenigstens einer von uns richtig vermummt ist, reicht das hoffentlich. Ich bilde mir nicht ein, dass ich irgendetwas richtiger mache als diejenigen, die es schon erwischt hat. Gestern habe ich beispielsweise an einer Fast Food Bude einen Salat gegessen, was man in Seuchenzeiten eigentlich nicht tun sollte. Da mache ich mir keine Illusion.
Dank meiner regelmäßigen Beschäftigung mit Risiken und Sicherheit habe ich zwei Dinge über Sicherheit und Risiken gelernt: Mit Hilfe einfacher Maßnahmen kann man schon ein ganz ordentliches Sicherheitsniveau erreichen. Aber je sicherer man sein möchte, umso mühsamer und teurer wird es, bis dann die Sicherheitsmaßnahmen unangenehmer werden als der Eintritt des Risikos. Hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben. Das Leben bleibt gefährlich. Vor allem habe ich mich dafür entschieden, Risiken einzugehen, weil sonst das Leben gar keinen Spaß mehr macht. Jeder sucht vermutlich ein anderes richtiges Maß an Sicherheit und Risiko. Gesamtgesellschaftlich gesehen endet jedoch unsere Entscheidungsfreiheit dort, wo wir andere in Gefahr bringen.
Bleiben Sie gesund!