Es gibt das alte Klischee, dass Frauen in einer Beziehung immer hören wollen "Ich liebe Dich" und die Männer der Meinung sind, so etwas Selbstverständliches müsse man nicht jeden Tag wieder neu sagen. "Ich bin doch noch bei Dir, also was soll die Frage, ob ich Dich liebe?"
Ich sehe das auch so. Wenn man von jemandem geliebt wird, dann zeigt er das in seinen Handlungen. (Wobei die Nicht-Scheidung nicht immer eine bewusste Handlung ist, sondern manchmal auch eine feige Nicht-Handlung.) Es gibt drei Gründe, die Liebe eines Menschen in Frage zu stellen:
(1) Er liebt sie wirklich nicht mehr, sie merkt es und möchte nun angelogen werden, weil sie es nicht glauben kann, dass sie ihn verloren hat. Uns Frauen wird ja beigebracht, unserer Intuition niemals zu vertrauen.
(2) Er liebt sie, aber sie benötigt aufgrund von Verlustangst mehr Bestätigung als nur die offensichtliche Evidenz.
(3) Sie ist eine Psychopathin oder Borderlinerin, die diese Frage und die Opferrolle benutzt, um seine Gefühle zu kontrollieren.
Weder sie selbst noch er kann immer so genau unterscheiden, welcher der Gründe zutrifft. Umgekehrt, glaube ich zumindest, dass falls der Mann tatsächlich täglich "Ich liebe Dich" sagt, dann ist der Grund Fall (1): Er liebt sie nicht mehr und ist zumindest in Gedanken schon fremd gegangen. Er will aber nicht, dass sie ihn durchschaut. Es ist nämlich wirklich nicht normales Sozialverhalten, anderen Leuten ständig das Offensichtliche zu sagen.
Mit Beziehungen beschäftige ich mich gerade ja nicht, aber dieses Beispiel dient mir als Analogie fürs Berufsleben. Wenn hier der Vorgesetzte die ganze Zeit sagt "Ich schätze deine Arbeit sehr" oder "Ich schätze dich sehr", dann ist es genau dasselbe. Dann versucht er, darüber hinwegzutäuschen, dass er in Wirklichkeit überhaupt keine Achtung hegt. Er möchte aber nicht, dass die Person es merkt, aus Furcht, sie könne ihre Motivation verlieren. Also lügt man als Motivationsspritze regelmäßig. Die Betroffene merkt natürlich den Widerspruch zwischen Reden und Handeln. Wenn sie gelernt hat, ihrer Intuition zu misstrauen, wird sie den Worten vertrauen. Funktioniert das mit der Intuition noch richtig, durchschaut sie die Lüge. Schlimmstenfalls wird sie durch "kognitive Dissonanz" gelähmt, weil sie instinktiv bemerkt, dass etwas nicht stimmt, es aber mit Worten nicht benennen kann. Der mächtigste Zauberspruch auf dieser Welt ist immer noch die Wahrheit. Ansprechen kann man den Widerspruch natürlich auch nicht, das nur zu weiteren Lügen führt und dazu, dass der Lügner einem auch noch Minderwertigkeitskomplexe unterstellen kann und wird.
Harmloser ist es da, wenn man auf irgendeinem Networking Event von jemandem mit Komplimenten eingeseift wird. Das ist auch kein normales Sozialverhalten für Menschen, die einfach mal ein paar interessante Leute kennen lernen wollen. Hier gilt die Faustformel: Je dicker die Komplimente, umso teurer das Produkt, das man kaufen soll. Die schönsten und überschwänglichsten Komplimente erhält man von den Leuten, die einem 3000 Euro pro Tag für ihr Coaching abzocken wollen. Aber auch nur dann, wenn sie mich als zahlungsfähig einschätzen.
Diese ganze Lügnerei nervt ja ziemlich. Leider gibt es immer wieder Menschen, die darauf hereinfallen. Ich habe mal wo gelesen "Angelogen wird nur, wer angelogen werden will." Das fand ich damals ziemlich brutal. Es ist ja eigentlich normal-menschlich, dass man gerne gute Beziehungen zu anderen Menschen haben möchte und nach Lob schnell mal süchtig wird. Aber oberhalb von einem bestimmten Alter stimmt die brutale Regel sehr wohl. Man sollte durchaus irgendwann in der Lage sein, die Absichten hinter den Worten der anderen zu erkennen, und glasklar auch nachvollziehen können, welche Worte in mir welche Wirkung auslösen. Leider wird ja so viel gelogen. Manche Leute lügen so gewohnheitsmäßig, dass allein die Idee von Realität, Fakten und Wahrheit für sie keinerlei Bedeutung mehr hat. Was auch immer sie sagen, dient grundsätzlich nur noch einem arroganten, rücksichtlosen Ziel.
Naja, nicht mit mir. Früher habe ich mich orientiert an dem Bibelspruch "An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!" (1. Johannes 2,1-6), aber auch das passt nicht immer, weil es unzählige Fälle gibt, wo Menschen aus den falschen Gründen das Richtige tun. Geld zu spenden, um Steuern zu sparen ist da nur ein harmloses Beispiel, wobei das Absetzen von der Steuer ja eine gezielte Nudging-Maßnahme ist, um auch egoistische Menschen zum Spenden zu motivieren. Es gibt viele gefährlichere und traurigere Beispiele... Es hat schon seinen Grund, warum Machiavelli in seinem Buch "Der Fürst" genau dies empfiehlt: Man handelt vordergründig als sei man ein guter Mensch. Das gibt einem hinten herum die Freiheit, beliebig schlecht zu handeln. Die guten Menschen werden darauf hereinfallen, weil sie glauben, einen der Ihren vor sich zu haben, während die Bösen ebenfalls einen der Ihren erkennen. Man wird also von allen geliebt und geachtet. Falls dann doch jemand schockiert die Wahrheit erkennt, wird ihm keiner glauben. Tja...
Wobei ich damit nicht behaupten will, dass es keine Liebe und Achtung gibt. Im Gegenteil ist die Welt voll davon. Sie wird nur leider oft missbraucht, belogen und in die falsche Richtung gelenkt. Gerade das Vertrauen anderer wird von bösen Menschen immer wieder für ihre Zwecke missbraucht. Jede andere Form von Betrug verursacht viel mehr Arbeit. Aber "Ich liebe / achte dich" kostet nichts und kann ziemlich viel finanziellen oder anderen Gewinn einbringen, ohne selbst zu arbeiten.
Ich gehe jetzt erstmal ganz egoistisch mein Mittagessen kochen und mich anschließend wieder meinen guten Taten widmen. Ich liebe euch alle. :-)