Der Jugendpsychologe Michael Winterhoff hat in seiner Praxis etwas beobachtet, das ihn nicht los ließ. Er sammelte Zeitungsartikel, um damit seine Hypothese zu prüfen und zu bestätigen: Heutzutage sind die Volljährigen oft nicht erwachsen. Schlimm, wenn diese Leute Eltern sind!
Als Erwachsenen definiert er einen Menschen, der handelt, statt nur zu reagieren, der Probleme löst, seinen Job macht und seinen Kindern Halt gibt.
Die meisten Leute jedoch tun nichts davon. Sie sind ständig im Stress und überfordert, sehen das Wesentliche nicht und behandeln Symptome statt Ursachen. Probleme werden nicht gelöst, sondern verschoben oder wegdelegiert. Dies führt zu einer Bremswirkung, die wir uns nicht leisten können.
Schein ist solchen Menschen wichtiger als Sein, was ein gesellschaftlicher Trend zu sein scheint. Imagehörige fürchten das Versagen und fahren darum am liebsten eine Vermeidungsstrategie.
Wenn die Prioritäten falsch oder gar nicht gesetzt werden, wenn alles wichtig ist, ist alles gleich und somit wiederum unwichtig. Das ineffektive Arbeiten und Vermeiden führt allerdings zu noch mehr Überforderung. Aus der Überforderung folgt Resignation und so dreht man sich im Teufelkreis der Überforderung. Entscheidungen werden nicht getroffen, Probleme nicht gelöst. Schmerzen werden vermieden, doch ohne Anstrengung wird man nicht stark.
Was mir persönlich schon aufgefallen ist, und was gut hier dazu passt ist, dass sehr viele Menschen quasi Dauerdemonstrierer sind. Sie verpulvern ihre Energie damit, ständig gegen alles zu sein, sich als Opfer zu fühlen und mir vorjammern, was alles nicht geht, statt etwas zu tun und zu gestalten. Zum Beispiel heult man über die bösen Politiker und dass man als Bürger nicht mitgestalten könne, und wenn ich anrege, Mitglied in einer Partei oder einem Verein zu werden, um etwas zu ändern, dann bringt das angeblich auch nichts. Dabei gibt es so wenige Menschen, die aktiv diese Welt gestalten, dass jeder einzelne viel bewegen kann. Der Zirkel ist ziemlich klein, man begegnet denselben Aktiven immer wieder. Dabei würden wir uns über Unterstützung freuen.
Winterhoff warnt: Bald ist kein Erwachsener mehr übrig, der weiß, wie das mit dem Erwachsensein geht. Ich hoffe, er hat Unrecht, aber belastbare Zahlen über den Anteil der Erwachsenen unter den Volljährigen liegen mir nicht vor, und Winterhoff liefert auch keine.
Als Ursachen für diesen Trend sieht Winterhoff die Mediensucht und Kultur der Störung, aber auch die Do it yourself Ansprüche, dass man heutzutage alles selbst können sollte und zu viele Entscheidungen treffen kann und soll. Früher war das Leben der Menschen weniger frei und darum nicht so überfordernd. Man wird mit zu vielen Informationen überschwemmt, hat zu viele Wahlmöglichkeiten, und dann funktioniert die Intuition nicht mehr. Es scheint heutzutage jeder Wunsch erfüllbar zu sein, woraus sich eine egozentrische Anspruchshaltung ergibt.
Ich persönlich bekomme ein ungutes Gefühl, wenn es mal wieder in einem Film oder Vortrag heißt "Du kannst alles erreichen, wenn Du es nur willst." Im Prinzip schon, aber die Opfer dafür können sehr hoch sein. Ist darum jeder, der nicht die Olympiade gewinnt und nicht ein Mal im Leben ein Land regiert hat, gleich ein Versager? Warum hat ein Schriftsteller versagt, wenn sein Buch nicht millionenfach gekauft wird? Ich denke, die vielen "Du kannst Präsident werden / den Superbowl gewinnen / Miss World werden, wenn Du Dich nur genug anstrengst"-Geschichten sind letztlich nicht gesund für uns. Nur alle vier Jahre gewinnt mal jemand die Olympiade, es gibt immer nur eine Miss World und einen Präsidenten. Vizepräsidentin zu sein, das zählt ja nicht. Na, dann sind wir alle Versager und fühlen uns schlecht? Das wäre kindisch!
Aber zurück zu Winterhoff: Wenn die Eltern nicht erwachsen sind, geben sie den Kindern keine Orientierung, sondern orientieren sich selbst an ihren Kindern. Sie wollen von ihrem Kleinen vor allem geliebt werden, machen sich von ihm abhängig, indem sie sich über das Kind und dessen Erfolge definieren. Auch hier herrscht Schmerzvermeidung vor, so dass die Kinder keine klaren Vorgaben erhalten. Kinder werden viel zu früh zwangsbefreit aus der Rolle des Lernenden und sollen Entscheidungen treffen, für die sie noch zu jung sind. Nur erwachsene Eltern können ihre Kinder zu Erwachsenen erziehen. Bedenkt man also, dass Kinder maximal so erwachsen werden wie ihre Eltern, dann geht es wirklich bergab. Ich denke, dass ein Kind zum Glück nicht nur von seinen Eltern erzogen wird, sondern sich auch außerhalb der Familie Vorbilder sucht.
Winterhoff behauptet, dass in der Erwachsenenwelt auch nichts mehr voneinander verlangt wird. Die Firma sei ein Biotop für die Mitarbeiter/innen, die sich dort vor allem wohl fühlen sollen. Schlechte Arbeit wird durch Aufmerksamkeit und Mitgefühl belohnt. Glaubt er. Richtig ist aber sicher das: "Karriere machen nicht die, die die Arbeit machen, sondern andere davon überzeugen können, dass sie sie gemacht haben."
Nach meiner Erfahrung braucht eine Firma immer noch ihre Leistungsträger, weil sonst kein Geld reinkommt. Mittelfristig bezahlen Kunden nämlich für Leistung und nicht für heiße Luft. Allerdings zeigen Firmenpleiten immer wieder, dass sich dank Krediten und Bluff auch nicht leistende Unternehmen, in denen die Blender das Wort führen, eine Weile halten können. Ja, es gibt einen Trend dazu, dass Schwätzer höher geachtet werden als Macher. Aber wo das so ist, merkt man es an den wirtschaftlichen Zahlen des Unternehmens. Schwätzer-Chefs stecken oft ratlos die Köpfe zusammen und verstehen nicht, warum die Zahlen so rot sind, wo sie doch so positiv denken und gute Stimmung machen. Ja, aber sie fördern gute Arbeit zu wenig! Sie stellen Experten ein und hören dann nicht auf deren Rat und Warnungen. Erwachsene Mitarbeiter und kindische Chefs sprechen nicht dieselbe Sprache!
Was schlägt also Winterhoff als Lösung vor? Nicht das, was heutzutage gerne getan wird: Wellness zur Ablenkung vom Stress? Oder Hochzeitsplaner, Anlageberater und Coaches, die unsere Überforderung reduzieren und die kindliche Sehnsucht nach Fremdbestimmung erfüllen. Diese bezahlten Helfer geben uns Aufmerksamkeit und nehmen uns die Verantwortung, geben uns eine scheinbare Geborgenheit statt die Gelegenheit, selbst Fehlentscheidungen zu treffen. Nein, was hilft, ist ein fünfstündiger Spaziergang ohne Handy. Der moderne Medienjunkie empfindet das vermutlich als die Hölle. (Kann ich nicht beurteilen, für mich sind lange Wanderungen ohne Handy Gewohnheit.) Für den gestressten Menschen sind fünf Stunden nötig, bis das Gehirn endlich anfängt, seine eigenen Gedanken zu erzeugen, sich zu sortieren und Klarheit zu schaffen. Und das ist der erste Schritt zum Erwachsenwerden.
Winterhoff hegt die Hoffnung: Jeder kann jederzeit noch erwachsen werden. Wir sind stark genug. Wir sind immer lernfähig.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist Winterhoffs Vorgehen, sich Zeitungsartikel zur Bestätigung seiner Hypothese zusammenzusuchen, natürlich anzuzweifeln. Die Zeitung berichtet selten von erwachsenen Menschen, die erfolgreich ihren Job machen und bei denen alles glatt läuft, da sie Probleme lösen statt die zu verschleppen. Das Datenmaterial ist darum "biased", also einseitig. Andererseits zeigen die genannten Beispiele, dass es viele Fälle gibt, wo er seine Erklärungen passen, vor allem viel wirklich dämliches Verhalten. Außerdem will das Buch übertreiben und provozieren. Niemand von uns wird wohl anzweifeln, dass es solche Menschen viel zu viele gibt und dass diese unnötige Probleme verursachen. Ob es sich wirklich um einen Trend handelt, weiß ich nicht. Früher hat man, wenn etwas schief ging, mal schnell eine Hexe verbrannt oder einen Kreuzzug organisiert, um von echten Problemen abzulenken. Inkompetenz und Versagen hat es sicher schon viel gegeben, und jeder Historiker könnte vermutlich ähnliche Beispiele hervorzaubern. Man denke nur an das kindische Gezänke im Nibelungenlied oder den sinnlosen Untergang Trojas. Da hätte man auch das eine oder andere besser lösen können, zumal beide Tragödien sich über einen längeren Zeitraum hinzogen und viel Gelegenheit für Deeskalation geboten hätten.
Ich fürchte, das Buch wird genau diejenigen zum Nachdenken anregen à la "Bin ich sicher, dass ich erwachsen handle?", die diese Frage gar nicht nötig hätten. Und diejenigen, die wirklich noch nicht erwachsen sind, lesen solche Bücher nicht. Ich finde es aber trotzdem immer wieder schön, wenn jemand Dinge beim Namen nennt und etwas, das mir auch schon aufgefallen ist, schöner ausformuliert als ich das gekonnt hätte.
Simon Ehrlich