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Die Cyborg-Öffentlichkeit der Smart City: Gibt es ein Recht auf ein analoges Leben?

Am Mittwoch (5.6.) besuchte ich einen Vortrag im Haus der Architekten mit dem Titel "Die Cyborg-Öffentlichkeit der Smart City". Frau Prof. Kropp stellte uns ihre Vision der smarten Stadt vor, in der jeder Bürger als "Cyborg" (= Mensch + Smartphone und andere Messgeräte) ständig Daten produziert, die dann nützlich ausgewertet werden. Im Vordergrund stand die Lösung der Probleme jeder Großstadt: Verkehrsleitsysteme, die den vorhandenen Verkehr so lenken, dass er möglichst wenig die Luft verpestet, bedarfsgerechte Bereitstellung von öffentlichen Verkehrsmitteln und Leihfahrzeugen. Aber natürlich auch "Kaufempfehlungen", d.h. ich erhalte jederzeit auf mein Smartphone diejenige Werbung, die ich eigentlich haben wollte, ohne selbst davon zu wissen. Ich kaufe dann nicht mehr ein, wenn ich will (pull: Ich hab jetzt Durst, wo gibt es was zu trinken?), sondern werde rechtzeitig erinnert (push: Mal wieder Zeit für eine XY-Cola!). Ich habe gelernt: Der Verleih von Fahrzeugen ist nicht das Geschäftsmodell der Shareconomy, sondern das Datensammeln. Dann ist wohl Umweltschutz auch nicht das Ziel? Auch die Regierung hätte gerne die "transparente Stadtbevölkerung" mit anschließender Digitalisierung auch der Dörfer. Fahrerassistenzsysteme, Navigationssysteme und erst recht der autonome PKW und das Leihfahrzeug machen Autofahrer jederzeit vollständig überwachbar, nicht nur deren Position. RFID-Monatskarten zeichnen personenbezogene Bewegungsprofile von Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel. Bleiben noch die Radfahrer und Fußgänger, die nicht  gut erfasst sind. Noch! Das Smartphone und das Navisystem für diese beiden Gruppen sollen die Wissenslücke schließen. So kann die Stadt der Zukunft effizient gesteuert werden: Wer wann wo fährt und parkt.

Datensammeln erscheint plötzlich als Bürgerpflicht. Die Energiewende, Energieeffzienz und die Lösung der Umweltprobleme sind angeblich nur mit Hilfe  umfangreicher, ja vollständiger Daten möglich. Ich persönlich verstehe nicht, warum wir nicht einfach weniger Auto fahren und mehr zu Fuß gehen, zu den Stoßzeiten mehr und sonst weniger Busse einsetzen. Warum muss die Smarte Stadt extra für mich einen Bus bereitstellen? (Würde sie das überhaupt tun?) Warum muss das Verkehrsleitsystem anhand jeder individuellen aktuellen Position vorausplanen, statt anonyme Statistiken zu verwenden?

 

Frau Prof. Kropp hat den Lehrstuhl für Soziologie / Risiko- und Technikforschung an der Universität Stuttgart inne. Risiken waren allerdings weniger das Thema des Vortrags. Datenpannen, kommerzielle Interessen in- und ausländischer Unternehmen, Privatsphäre und Datenschutz kamen nicht zur Sprache.


Diese Zukunftsvisionen lösten in mir den sofortigen Wunsch aus, eine Analogisierungs-Bewergung zu gründen, die sich für das Recht des Bürgers einsetzt, nicht zur Digitalisierung seines Lebens gezwungen zu werden. Ein Recht auf Bargeldzahlungen, auf Papierakten (z.B. beim Arzt, Steuererklärung - oder zumindest Linux-Kompatibilität), anonyme Fahrkarten, auf Briefverkehr, gedruckte Bücher, Löschung von Daten, Nichtnutzung von Smartphones. Diese Woche war bei mir der Tag der Tage, auf den ich schon lange gewartet hatte. Der Tag, an dem etwas, das ich bisher gemacht habe, nun ohne Smartphone nicht mehr geht. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Ich kann nun ohne Smartphone-App nicht mehr mit meiner Kreditkarte im Internet einkaufen. Immerhin geht noch auf Rechnung und Überweisung. Hotelzimmer zu bezahlen sollte auch noch funktionieren. Selbst Datenschutz-Vereine sind leider nicht grundsätzlich gegen die Volldigitalisierung der Welt, sondern nur dafür, diese Daten zu schützen. Ich persönlich kann im Prinzip auch damit leben, dass die Bücherei weiß, welche Bücher ich lese (solange sie es nicht ausplaudert) und dass ich im Internet arbeite. Aber mein Privatleben sollte doch analog bleiben dürfen. Ich will nicht Staat, Firmen und Datensammlern ständig mitteilen müssen, welche Wege ich gehe und fahre, damit die daraus individuelle Bewegungsprofile von mir erstellen. Der zu erwartende Nutzen ist meiner Erwartung nach nicht groß genug. Als Kind habe ich ohne jegliche Technikunterstützung im Wald gespielt. Davon gibt es weder Bewegungsprofile noch Fotos, und das ist genau richtig so. Wir müssen nicht alles dokumentieren (müssen), was wir tun. Ich lebe nicht für die Daten und für die Erinnerung, sondern für das Hier und Jetzt.

Über das Wort "Datenschutz" muss ich oft müde lächeln. Daten lassen sich nicht schützen. Sie sind nur mehr oder weniger leicht zu kompromittieren. Was erstmal erfasst ist, beibt in Gefahr, in die falschen Hände zu geraten oder dass die falschen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Warum sonst schotten sich Marc Zuckerberg und andere Größen der Digitalisierung privat so ab? Von Zuckerberg gab es jahrzehntelang immer nur dasselbe eine Foto. Aber wir sollen jede Mahlzeit und jede Freundschaft online dokumentieren?

Es wird Zeit zur Analogisierung, der Gegenbewegung zur Digitalisierung. Die Digitalisierung rollt sowieso über uns hinweg, aber werden noch analoge Inseln bleiben? Ich liebe Tauschregale. Dort könnte ich die haarsträubendsten Bücher ausleihen, ohne dass es jemand erfährt. Wir brauchen noch mehr solche anarchischen Einrichtungen!

Haben wir ein Recht auf ein analoges Leben? Darauf, uns aus dem "always on" auszuklinken? Hin und wieder noch anonym sein zu dürfen? Will das noch jemand außer mir?

 

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