Das Buch von Kahnemann über "Schnelles Denken, langsames Denken" habe ich damals schon gelesen, als es neu war. Ich fand jetzt aber diesen Artikel als Zusammenfassung auch sehr schön. Besonders den Test mit den vier Fragen. Mein Ergebnis ist eindeutig: Ich gehöre zur Kategorie der langsam und gründlich denkenden Menschen. Das passt auch zu dem, was ich gestern Abend in "Nachtzug nach Lissabon" gelesen habe. Sinngemäß stand da: Die meisten Menschen reden einfach nur irgendetwas. Man kann sich nicht darauf verlassen. Ihre Rede, das sind keine sorgfältig formulierten Texte. Übrigens lese ich von diesem tiefsinnigen Buch auch jeden Abend nur ein einziges Kapitel, um bis zum nächsten Abend darüber nachzudenken. Das liegt nicht nur an mir, sondern auch am Buch. Den letzten Roman, den habe ich nur kursiv gelesen, 100 Seiten pro Abend. Da steckte nicht viel Inhalt drin.
Leider gilt es in unserer Gesellschaft als ein Zeichen von Selbstbewusstsein, wenn jemand laut Meinungen herausposaunt, die auf unvollständigen Informationen beruhen, die er/sie durch erfundene "Fakten" untermauert. Sorgfalt im Leben und im Beruf gelten sogar als Zeichen von psychischen Störungen. Wer in einem Text Rechtschreibfehler entfernt, leidet vermutlich an Autismus. Wirklich intelligente, selbstbewusste Menschen hauen fehlerhafte Texte raus, weil es ihnen egal ist, was andere von ihnen denken. Gründliche, fehlerfreie Arbeit ist ineffizient, solche Mitarbeiter kann eine Firma nicht brauchen. (Anmerkung: Das ist nicht meine Meinung, das sind indirekte Zitate aus dem echten Leben.)
Was soll aus dieser Welt nur werden, wenn das die vorherrschende Arbeitseinstellung ist?? Wenn die Oberflächlichdenker und die sich selbst Überschätzenden die Richtung vorgeben und die Entscheidungen treffen, weil sie Karriere machen, während die seriösen Langsamdenker ausgebootet werden?
Dabei glaube ich gar nicht, dass Langsamdenker ineffizienter arbeiten als Schnelldenker. Ich habe in meinem Leben schon mit hunderten von Menschen zusammengearbeitet. Und gerade die Schnelldenker stürmen sehr oft in die falsche Richtung davon, ohne erst die Anforderungen und Grundlagen ihrer Arbeit zu klären. Sie investieren oft Aufwand in etwas, das gar keiner braucht, priorisieren falsch oder produzieren unbrauchbar schlechte Ergebnisse. Sie treffen als Führungskraft falsche Entscheidungen, die andere dann mit viel Aufwand ausbügeln müssen. Ich erinnere mich noch daran wie eine Mitarbeiterin mich unter Druck setzte, ich als Projektleiterin müsse in einer dringenden Sache JETZT SOFORT eine Entscheidung treffen. Ich sagte ihr, dass ich jetzt erstmal in Ruhe meine Mandarine esse und währenddessen darüber nachdenke, was ich tue. Ja, die Sache war dringend und konnte keine Stunde warten. Sehr wohl aber die zwei Minuten, die ich brauchte, um die Mandarine zu essen. Es machte keinen Sinn, im Affekt nach dem Telefonhörer zu greifen und panische Dinge zu tun. Mehr als zwei Minuten brauchte ich auch nicht, um meine Gedanken zu sortieren und zu entscheiden, wen ich in welcher Reihenfolge anrufe, welche Informationen übermittle und welche Lösung ich vorschlage.
Langsamdenken bedeutet ja nicht mangelnde Intelligenz. Das zeigt ja gerade der Test in dem Artikel. Durch gründliches Nachdenken kommt man in diesen Beispielen eher zur richtigen Lösung. Man muss nur die Aufgabenstellung zwei Mal lesen und eventuell ein visuelles Modell erstellen. Das kostet einen intelligenten Menschen nicht viel Zeit, weil man hierbei systematisch vorgeht und darin geübt ist. Diese Systematik kann man übrigens aus Fachbüchern lernen, weil diese fast immer von langsam denkenden Menschen geschrieben werden. Ein Schnelldenker bringt gar nicht die Ausdauer auf, um mehrere hundert Stunden Aufwand in ein sorgfältig formuliertes Buch zu investieren.
Möglicherweise ist das Langsamdenken auch der Grund, warum viele intelligente Menschen nicht als intelligent erkannt werden. Weil der Langsamdenker, bevor er entscheidet oder zu arbeiten beginnt, erst ganz viele Fragen stellt, die dem Schnelldenker unnötig und dumm vorkommen. Weil der Langsamdenker viele Eventualitäten und Spezialfälle bedenkt, die beim Schnelldenker den Eindruck erwecken, der Langsamdenker sei unfähig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Der Schnelldenker hält seine schlampige, hastige Arbeitsweise ja für die Norm oder sogar das Ideal und ignoriert die schlechten Erfahrungen, die er damit gemacht hat.
Die besten Masterarbeiten habe ich aber bisher immer von den Langsamdenkern erhalten, falls sie zusätzlich eine systematische, disziplinierte Arbeitsweise hatten, insbesondere sich an Projektpläne hielten. Andernfalls kann es tatsächlich Probleme mit dem Zeitmanagement geben, z. B. dass anfangs zu viele Bücher gelesen werden, so dass am Ende zu wenig Zeit zum sauberen Zusammenschreiben bleibt. Aber Disziplin ist ja wieder eine andere Eigenschaft.