Jahrelang hatte ich meine Zeitmanagement-Aufschriebe oder Zeitbuchungen gesammelt, um sie irgendwann noch wissenschaftlich auszuwerten. Neulich habe ich dann aber schweren Herzens meine Unterlagen von 2000 bis 2009 entsorgt. Das Problem besteht darin, dass ich sie nur ausgedruckt auf Papier besaß. Ich hätte also alles eintippen müssen oder eintippen lassen. Meist waren jedoch die Einträge relativ nichtssagend beschriftet, beispielsweise mit dem Projektnamen oder Arbeitspaket. Beim Nachdenken darüber, wie ich diese Daten auswerten würde und welche Schlussfolgerungen ziehen, wurde mir klar, dass wie so oft Daten letztlich nur dem Zweck dienen, für den sie erhoben wurden. Beispiel: die penibel abgerechneten Mehrarbeitsbelege. Damals wollte ich wissen, wie viele unbezahlte Überstunden ich angesammelt habe und wie aufwändig welche Aufgabe war. Zum einen, weil ich das erfassen musste und auch benötigte, um irgendwelche Formulare auszufüllen. Zum anderen, weil ich damals noch glaubte, wenn ich quantitativ mit Fakten belegen kann, dass ich bisher zu viel gearbeitet habe und sogar mehr als die Kollegen, wäre das ein nützliches Argument für meine Entlastung oder eine Belohnung, z. B. eine Schulung, Beförderung, interessantere Aufgaben. Wie ich neulich schon schrieb: Manager lassen sich aber grundsätzlich nicht durch Kennzahlen beeinflussen, die von ihren Mitarbeitern ermittelt wurden. Da wird dann einfach wegargumentiert nach dem Motto "Du hast zwar viele Stunden aufgeschrieben, aber du kannst nicht belegen, dass du sie nützlich verbracht hast." Die Zahlen haben also selbst damals ihren Zweck nicht erfüllt, außer dass ich mir sicher sein konnte, dass ich definitiv nicht zu wenig gearbeitet habe. Selbst bezüglich dieses Fakts sollte mir immer mal wieder ein X für ein U vorgemacht werden. Mir fiel nun aber keine so wirklich interessante Auswertung für diese Zahlen ein. Was interessiert es mich jetzt noch, wie viele Überstunden ich 2002 geleistet habe? Oder wie viel Aufwand ein bestimmtes Arbeitspaket machte, von dem ich mich kaum noch erinnere, was eigentlich dazu gehörte? Interessant wäre vielleicht noch gewesen zu ermitteln, welchen Anteil meiner Arbeitszeit ich als Projektleiterin mit Besprechungen und wie viel mit produktiver Arbeit verbracht habe, aber auch das ist so projekt- und umfeldspezifisch, dass man daraus auch wenig wissenschaftliche Schlussfolgerungen ziehen kann. Außerdem stammen die Daten aus verschiedenen IT-Systemen verschiedener Arbeitgeber und haben darum völlig unterschiedliche, miteinander nicht vergleichbare Form und unterschiedliche Aufschlüsselung. Vieles war nicht sehr detailliert, eher Gesamtsummen. Ich habe darum die Daten einfach mal kursorisch durchgesehen und mit heute, meinen Erinnerungen und Erwartungen verglichen. Im Folgenden meine Erkenntnisse daraus:
Früher habe ich an deutlich weniger Projekten gearbeitet als jetzt und somit gingen sie auch schneller voran. Bei meiner letzten Zählung waren es 61 Projekte, und dabei habe ich alle Abschlussarbeiten als eines gezählt, sonst wären es über 70. Während meiner Habilitation arbeitete ich an 40 parallel, als Angestellte in der IT-Branche an ein oder zwei Kundenprojekten und noch dem einen oder anderen internen Ehrenamt. Mein Ziel besteht darin, auf 30 zu reduzieren, indem ich wenig Neues anfange und die angefangenen so bald wie möglich beende.
Früher konnte ich bis zu 30% meiner Arbeitszeit in grüne, also langfristige umfangreiche Projekte investieren, heutzutage nur noch 10 %. Und das obwohl ich inzwischen deutlich mehr Stunden arbeite. Als Angestellte waren es praktisch 0%, weil mein Arbeitgeber mich komplett mit Haut und Haaren auffraß, so dass keine Zeit mehr für solche Extras blieb. Genau darum würde ich nur noch eine Professorenstelle annehmen, andere kommen nicht mehr in Frage. Beim Professor gehören die grünen Projekte zu den Dienstaufgaben und sind im Zeitbudget schon eingeplant. Dass man sie dann praktisch ebenfalls in den Überstunden macht, ist eine andere Sache, aber bei allen anderen Stellen besteht der Anspruch von oben, die vollständige Kontrolle über die vollständige Arbeitskraft der Person zu haben, die dann nur in bezahlten Projekten arbeiten soll. Falls sie in der Freizeit noch Fachbücher schreibt, dann hat sie offensichtlich noch nicht genug "produktive" also umsatzbringende Arbeit auf dem Schreibtisch und bekommt so lange zusätzliche Aufgaben aufgebrummt, bis sie aufhört, irgendwelche unbezahlten Extras zu tun.
Als Angestellte arbeitete ich deutlich mehr an roten Aufgaben als als Solo-Selbständige. Die Ursache ist natürlich die "Teamarbeit" im Projekt und mit dem Chef. Ständig entsteht Hektik durch die Nichteinhaltung von Plänen durch die anderen, die bei der Teamarbeit naturgemäß die fleißigste Person durch übermenschliches Engagement wieder ausgleichen muss. Es war ein klassisches Muster, dass ein Kollege oder Vorgesetzter eine Aufgabe monatelang liegen ließ und ich dann kurz vor oder auch kurz nach dem Abgabetermin diese Aufgabe zugewiesen bekam. Da ich meine Aufgaben schnell und zügig erledigte, schlussfolgerte man daraus fälschlicherweise, dass ich am wenigsten ausgelastet bin von allen. Chefs wissen sehr gut, wie man gute Mitarbeiter abstraft und demotiviert. :-(
Geradezu traumhaft kam es mir im Nachhinein vor, dass ich viel öfter größere Blöcke zusammenhängender Arbeitszeit hatte, in denen ich produktiv arbeiten konnte. Am ganz normalen Arbeitstag, tagsüber! Als Projektleiterin natürlich nicht, da verbrachte ich die meiste Arbeitszeit mit Besprechungen und die Lücken dazwischen mit den E-Mails, so wie heute. Produktiv wurde ich erst abends und notfalls am Samstag. Ich wusste das früher gar nicht zu schätzen, dass ich tagsüber produktiv arbeiten kann, ich hielt das für normal. Schließlich war es das, wofür ich bezahlt wurde, nicht für die Besprechungen.
Sehr schmerzhaft empfand ich, dass viele meiner Arbeitgeber mich dazu zwangen, Arbeitszeit als "unproduktiv" zu klassifizieren, wenn sie nicht auf ein bezahltes Projekt abgerechnet werden konnte. Diese Kategorie gab es offiziell! Unverschämt, wenn man es genau nimmt. Ich habe auch in der unproduktiven Zeit Sinnvolles arbeitet. Dazu zählte die Betreuung von Praktikanten, Einweisung neuer Kollegen, Vertriebsunterstützung, interne Projekte wie z. B. Beiträge fürs Intranet zu schreiben, Listen zu erstellen, Teilnahme in Team- und Niederlassungsmeetings, Fortbildung, meine Arbeit als Sicherheitsbeauftragte. Formal war es ein unproduktives Ehrenamt. Da von uns gefordert wurde, dass wir zu 100 % produktiv arbeiten sollen, wurde praktisch damit gefordert, dass wir diese Aufgaben unbezahlt in unserer Freizeit tun. Das Schlimmste war aber: Wenn ich 10 % der Arbeitszeit "unproduktiv" buchte, schlussfolgerte der Vorgesetzte, dass ich 10 % meiner Arbeitszeit untätig herumsitze und man diese 4 Stunden pro Woche mit zusätzlichen Aufgaben füllen müsse. Dabei hatte ich die 10 % ja durchaus mit Pflichtveranstaltungen und dringenden, nützlichen Aufgaben verbracht, die ausdrücklich angefordert wurden! Die einzige Lösung für mich wäre gewesen, diese Zeit gar nicht zu buchen, also in Form von nicht nur unbezahlten sogar undokumentierten Überstunden zu leisten. Einem meiner Chefs habe ich mal erklärt, was ich von dieser Kategorie "unproduktiv" halte, aber gegen Vorgaben von oben hilft natürlich kein Argument. Es ist ja in so einem Unternehmen eh niemand für irgendetwas verantwortlich. Diese Perversionen des Arbeitslebens beendet leider niemand, vermutlich weil sie ein prima psychologisches Druckmittel sind. Selbst wer seine Arbeit vorbildlich und hochkonzentriert ausführt, hat am Ende zwangsläufig schlechte Zahlen. Nur Betrug kann hier helfen, z. B. die Überstunden nicht zu buchen oder "unproduktive" Arbeit dem Kunden in Rechnung zu stellen.
Früher habe ich weniger gearbeitet als heute, aber mehr gejammert. Das hat zahlreiche sinnvolle Gründe:
- Mit zunehmendem Alter verliert man seine Illusionen. Arbeitsverträge, in denen 40 Stunden als Arbeitszeit und ein fester Gehalt genannt werden, sind wegen dem asymmetrischen Machtverhältnis leider nur teilverbindlich. Der Gehalt ist verbindlich, die 40 Stunden sind es nicht. Natürlich bin ich keine Sklavin und kann weggehen, wenn es mir nicht gefällt. Aber erstens mal sieht das im Lebenslauf nach Job Hopping aus und zweitens ist es ja in der nächsten Firma oder dem nächsten Institut auch nicht besser. Die Ausbeutung von Akademikern ist Teil unserer deutschen Arbeitskultur. Wie schon Hans Fallada in "Kleiner Mann, was nun?" feststellt: Die Arbeiter sind gut organisiert und wehren sich gegen Ausbeutung, aber die Angestellten lassen alles mit sich machen. Heute gibt´s für Angestellte auch Betriebsräte, aber die vertreten nicht wirklich die Akademiker und können das auch nicht, weil Akademiker recht spezielle Arbeitsverträge bekommen, in denen unbezahlte Überstunden pauschal mit dem Gehalt abgedeckt sind oder auch ganz wegfallende Arbeitszeiterfassung einen Nachweis von Überstunden unmöglich macht.
- Ich habe verstanden, dass ich als Frau mit "Dienst nach Vorschrift", also durch die normale bezahlte Arbeit allein auf keinen Fall "kompetent" werde. Für einen Mann ist es in Ordnung, einfach seinen Job zu machen. Jedes Jahr macht ihn automatisch kompetenter, selbst wenn er gar nichts Aufregendes oder öffentlich Sichtbares leistet. Er muss seine Kompetenz nicht nachweisen. Ich als Frau jedoch muss meine Kompetenz ständig durch Extras weiterentwickeln und beweisen, beispielsweise durch Zertifikate, Forschung, Bücher, Vorträge. Tue ist das nicht, gelte ich als Hausfrau. Ich muss also Außergewöhnliches leisten, nur um überhaupt ein Recht auf ein Einkommen zu verdienen. Die Entscheidung liegt bei mir.
- Ich hatte früher mehr Freundschaften und Hobbies, für die ich mir Zeit freikämpfen wollte. Aber seitdem ich regelmäßig abends und am Wochenende Kurse halte, haben sowohl Freundschaften als auch Hobbies massiv gelitten. Würde ich beispielsweise einen Tanzkurs am Dienstabend buchen, würde ich jedes zweite Mal fehlen und die Hälfte aller Schritte verpassen. Auch bei einer Samstags-Wandergruppe würde ich regelmäßig fehlen. Abgesehen davon, dass es mit den Freundschaften immer schwieriger wird, je höher mein Status. Als ich den Professoren-Titel bekam, verlor ich die Hälfte meiner Freunde. Der beruflich-gesellschaftliche Status einer Person dient doch als wichtiges Auswahlkriterium für zwischenmenschliche Beziehungen. Nicht für mich, aber offensichtlich für jeden anderen. Sobald neue Bekannte erfahren, was ich beruflich mache, verhalten sie sich seltsam abweisend. Dabei staple ich ja schon gewohnheitsmäßig tief, aber noch nicht tief genug. Mir bleibt also mehr Zeit fürs Arbeiten als früher, als ich mehrmals die Woche abends zum Sport, Chor oder in die Literaturgruppe ging und mich am Wochenende mit Freunden traf.
Laut Feng Shui macht es nicht so viel Sinn, die Vergangenheit mit sich herumzuschleppen und auszuwerten. Mehr Sinn macht es, Pläne und Strategien für die Zukunft zu entwickeln und vorwärts zu denken. Wie will ich meine restliche Lebenszeit verbringen?