Mir fiel neulich eine Geschichte aus meiner Grundschulzeit ein, die ganz repräsentativ für das ist, was im Berufsleben vor sich geht.
An einem Samstag war Schulfest. Unsere Klasse hatte Bastelarbeiten gemacht, die an einem Stand verkauft werden sollten. Damit den ganzen Tag der Stand besetzt ist, waren drei Schichten zu jeweils zwei Stunden zu besetzen. Meine beste Freundin und ich meldeten uns freiwillig und wurden für die mittlere Schicht eingeteilt.
Am Morgen kam ich also zum Schulfest und drehte erstmal eine Runde, um zu sehen, was es alles gab. Unter anderem gab es eine Schatzgräber-Station, wo man im Sand buddeln und Schätze finden konnte. Das wollte ich unbedingt machen, aber momentan war die Attraktion noch nicht ganz aufgebaut. Ich müsse später wiederkommen. Überhaupt war noch nicht viel los. Da meine Eltern mich zur Zuverlässigkeit erzogen hatten, ging ich also los, um nachzusehen, wo sich unser Stand befindet. Damit ich ihn dann später, wenn meine Schicht beginnt, gleich finde und nicht erst suchen muss. Der Stand war schon aufgebaut, die beiden Mitschüler vor Ort.
Als sie mich sahen, sagten sie: "Oh, da kommt die Ablösung!"
Ich natürlich: "Nein, ich bin noch nicht dran, erst später. Ich wollte nur mal den Stand ansehen."
"Ach, wenn du schon da bist, kannst du ja gleich übernehmen."
Sie sahen einander an und spurteten los, bevor ich erneut widersprechen konnte. Ich stehe also nun ratlos vor dem Stand, dahinter ist niemand. Wie gesagt, ich wurde zur Zuverlässigkeit erzogen und konnte den Stand darum nicht unbeaufsichtigt lassen. Also ging ich dahinter und wartete darauf, dass die Lehrerin oder sonst jemand kommt, dem ich sagen kann, dass meine beiden Vorgänger sich verdünnisiert haben, damit man sie zurück hole.
Die Lehrerin kam auch kurz vorbei und stellte zufrieden fest, dass alles in Ordnung ist, der Stand ist besetzt. Ich erklärte ihr, dass ich noch gar nicht dran sei, sondern nur hier stehe, weil meine Vorgänger weggelaufen sind. Sie schien zu denken, ich wolle dafür gelobt werden, lobte mich und ging weiter. Ich rief ihr nach, aber das beachtete sie nicht. Ich lief ihr nach und versuchte, ihr das Problem erneut zu erklären. Aber sie meinte, es gäbe kein Problem. Ich hätte ja schließlich freiwillig den Standdienst von meinen Kollegen übernommen. Also musste ich die Schicht fertig besetzen.
Immerhin würde dann demnächst meine Freundin kommen, dann wäre das alles weniger langweilig. Die Freundin erschien dann auch kurz, aber nur um mir zu sagen, dass sie jetzt gleich einen Auftritt mit ihrer Tanzgruppe habe und sie vorher noch proben müssen. Ich wundere mich, dass sie überhaupt zwei Verpflichtungen gleichzeitig annahm, sah aber ein, dass die Tanzgruppe vorging. "Komm danach aber unbedingt hier her! Alleine ist es so langweilig!", rief ich ihr noch nach. Ich sah sie an dem Tag nicht wieder.
Die Lehrerin kam erneut vorbei und sah erfreut, dass der Stand besetzt ist. Da es tatsächlich meine Schicht war, für die ich mich verpflichtet hatte, machte ich gute Miene zu bösem Spiel.
Sie lobte mich auch für mein Lächeln und meinte: "Das Mädchen von heute Morgen war etwas faul, das wollte plötzlich seine Schicht abgeben."
Als die zweite Schicht zu Ende ging, freute ich mich schon darauf, dass die Ablösung kommt und ich endlich zum Schatzgraben gehen kann. Nur: Die Ablösung kam nicht! Ich musste also weitermachen, denn wie gesagt hatten meine Eltern mich zur Zuverlässigkeit erzogen. Ich konnte darum den Stand nicht unbeaufsichtigt lassen.
Die Lehrerin kam erneut vorbei und freute sich, dass der Stand besetzt ist. Ich versuchte ihr zu erklären, dass die Ablösung nicht gekommen sei. Sie verstand das Problem nicht. Ich sei doch da. "Ja, aber die, die eigentlich jetzt dran wären, die sind nicht gekommen."
"Aber du bist doch jetzt dran, sonst wärst du nicht gekommen."
"Nein, ich bin noch von der vorherigen Schicht."
"Und warum machst du dann Standdienst, wenn du nicht dran bist?"
"Ich kann doch den Stand nicht unbeaufsichtigt lassen!"
"Also, wo ist dann das Problem?"
Damit ging sie wieder.
Irgendwann wurden es immer weniger Leute und ich hörte Sätze wie "Dann gehen wir mal nach Hause. Die Stände werden schon abgebaut."
Da begann ich ganz schrecklich zu weinen. Ich hatte fast das gesamte Schulfest hinter dem Stand verbracht! Dass da ein kleines Mädchen sitzt und weint, das wurde dann doch bemerkt. Ich wurde gefragt, was denn los sei und ich erklärte das ganze Drama. Man fragte mich nach dem Namen meiner Lehrerin und versuchte, diese zu finden, aber vergeblich. Schließlich nahm mich jemand an der Hand und meinte, der Stand sei nicht so wichtig. Was ich denn gerne machen wolle. Ich sah meine Chance gekommen: endlich Schatzsuche! Leider wurde die Sandkiste schon abgebaut und der Mann meinte: "Da hättest du früher kommen müssen!" Ich weinte wieder. "Und außerdem sind ja auch gar keine Schätze mehr da."
Ich sah in dem Sand noch etwas Blaues schimmern, wagte aber nicht, darum zu bitten. Ich war völlig erschüttert. Schließlich nahm mich die Dame wieder an die Hand und sagte, sie wolle mal sehen, ob es nicht doch noch etwas gäbe, was ich machen könne.
Tatsächlich konnte ich dann noch einen Blumentopf bemalen. Ich wusste, dass man nun von mir erwartete, dass ich fröhlich bin, aber das Malen machte gar keinen Spaß. Ich konnte kaum das Schluchzen unterdrücken. Aber ich malte tapfer, damit ich hinterher überhaupt etwas habe.
Am Montag lobte die Lehrerin uns alle sechs. "Ich habe gehört, dass ihr euch selbst organisiert und untereinander die Schichten getauscht habt. So viel Selbständigkeit hätte ich euch gar nicht zugetraut! Aber es hat wunderbar geklappt, am Stand war immer jemand da."
Wir wunderten uns alle sechs. Ich besonders. Offensichtlich hatte die Lehrerin gar nicht verstanden, dass den ganzen Tag immer dasselbe Mädchen am Stand gearbeitet hatte!
Das Traurige ist, dass es im Berufsleben nicht anders zugeht als in der Grundschule. Die Kollegen drücken sich vor der Arbeit, wo sie nur können. Und der Chef sieht es nicht als seine Aufgabe, die Arbeit gleichmäßig zu verteilen. Im Gegenteil. Es passiert immer wieder, dass ich provisorisch Aufgaben übernehme, für die ich gar nicht zuständig bin, einfach, weil irgendjemand es ja machen muss. Ich habe beispielsweise für ein Arbeitspaket schnell eine Aufgabe erledigt, weil niemand dafür zuständig war. Anschließend musste ich aber dann alle in dem Arbeitspaket anfallenden Aufgaben erledigen und wenn ich den Chef bat, endlich einen Zuständigen für das Paket zu finden, wurde mir erklärt, ich sei zuständig, denn schließlich habe ich es freiwillig übernommen. Ja, das war genauso freiwillig wie die drei Schichten beim Schulfest. Es war ja sonst niemand da, der es gemacht hätte! Und dass andere für die Arbeit gelobt werden, die ich gemacht habe, ist eh normal. Gerade dann, wenn das Ergebnis besonders gut ist, kann es ja nur von einem Mann stammen.
Das Traurige ist, dass in unserer Arbeitskultur zuverlässige Mitarbeiter, die im Notfall einspringen, gar nicht geschätzt und gewürdigt werden. Im Gegenteil. Wenn ich lange genug 200 % gearbeitet habe und dann reduzieren möchte, wirft man mir noch Faulheit vor. Die Chefs haben üblicherweise keinen Überblick darüber, wer tatsächlich wie viel arbeitet und würden es auch nicht merken, wenn die ganze Arbeit von derselben unscheinbaren, müden Person erledigt würde. Und falls sie es bemerken, verunglimpfen sie diese Person noch, weil sie selbst nie so hart arbeiten würden. Es muss also ein persönlicher Defekt vorliegen.
Regelmäßig wundere ich mich, dass in deutschen Firmen überhaupt noch Ergebnisse produziert werden bei so einem Führungsstil und dieser Arbeitseinstellung. Wobei ich voll verstehen kann, dass die Kollegen sich vor der Arbeit drücken, wenn gute Leistung sowieso nicht anerkannt wird. Nur irgendeiner muss sie halt machen und da kann ich nicht aus meiner Haut. Schon traurig, wenn man wegen Zuverlässigkeit nicht teamfähig ist. Aber als Selbständige ist es besser. Für die erledigte Arbeit erhalte ich Anerkennung in Form von Geld. Als Angestellte reduziere ich durch hohes Engagement nur einfach meinen Stundensatz, das fühlt sich sehr blöd an.